Für Metal-Fans ist die Kuhweide vor den Hauptbühnen des Wacken-Festivals der "Holy Ground", der heilige Boden. Beim Betreten fällt mancher Headbanger auf die Knie und küsst ehrfurchtsvoll die regennasse Erde - ein Pilger am Ziel seiner Wallfahrt. Werden religiöse Gesten nur ironisch zitiert, oder machen Fans auf diesem Acker in Schleswig-Holstein echte spirituelle Erfahrungen?
Für das Festival sind wieder mehr als 80.000 schwarz gewandete Gestalten angereist, darunter der Bestseller-Autor und Psychologe Nico Rose. Für ihn zählt hier vor allem das Gefühl der Gemeinschaft und des Angenommenseins. "Wacken ist ein Ort, an dem niemand komisch angeschaut wird, weil er Metal hört oder sich anders kleidet", sagt Rose, der sich in seinen Büchern mit der psychischen Konstitution der Metal-Fans beschäftigt hat.
In diesem Gemeinschaftserlebnis sieht Rose eine Parallele zum Religiösen. Aber auch in den körperlichen Ausdrucksformen der Metalheads: Das Headbangen und die wilden Drehbewegungen in sogenannten Moshpits erinnern ihn an schamanische Rituale. "Die Fans führen einen spirituellen Dialog", sagt Rose: "Wir hören Metal - aber der Metal hört auch uns."
Die Theologin Sonja Beckmayer von der Universität Mainz vergleicht Wacken mit einem Weihnachtsgottesdienst: "Die Menschen steigen aus dem Alltag aus, begegnen Gleichgesinnten und erleben etwas, das man zu Hause nicht erfahren kann." Es sei mehr als nur eine Aneinanderreihung von Konzerten. Vor der Bühne werde die Erfahrung gemacht: "Wenn ich falle, werde ich aufgehoben. Das ist ein außeralltägliches Gemeinschaftserlebnis, das wir aus religiösen Kontexten kennen."
Normale Sprache reicht nicht
Beckmayer hört selbst gerne Musik der harten Gangart und hat sich in ihrer theologischen Forschung mit Metal als liturgischer Musik in Gottesdiensten auseinandergesetzt. "Wenn Menschen sagen, dass Wacken ihr Leben verändert hat oder sie dort etwas erlebt haben, das sie nur dort erleben können, dann ist das für mich eine spirituelle Erfahrung - auch wenn sie nicht klassisch religiös auf einen Gott bezogen ist", sagt die Wissenschaftlerin.
Daher sind Begriffe wie "Holy Ground", "Metal-Mekka" und "Pilgerfahrt" für Beckmayer mehr als nur dekorative sprachliche Anleihen. Sie zeigen aus ihrer Sicht: "Eine normale Sprache reicht nicht, um das zu beschreiben, was in Wacken passiert. Es braucht eine religiöse Ausdrucksweise, um diese besondere Erfahrung greifbar zu machen."
Klang gegen die Welt schleudern
Zentral für diese Erfahrung sind die Eigenschaften des Metal-Sounds, wie der Psychologe Nico Rose hervorhebt: "Metal energetisiert die Fans." Das habe vermutlich mit den basslastigen Frequenzen zu tun, die sich physiologisch auswirken. "Gleichzeitig schreiben viele der Musik eine heilende Kraft zu. Sie löst Angst und Anspannung", sagt Rose, der für seine Studie "Die Vermessung der Metalheads" (2022) rund 6.000 Fans befragt hat.
Auf dem Wacken Open Air, dem größten Metal-Festival der Welt, wird somit für Zehntausende auf ausgeprägte Weise erlebbar, was der Soziologe Hartmut Rosa für das Genre insgesamt feststellt. In seiner "Kleinen Soziologie des Heavy Metal" (2023) schreibt Rosa, in Sound und Texten seien "das Entfremden, das Verzerrte unserer Existenz, der Tod" spürbar. Doch zugleich schleudere die Musik der Welt ihren Klang entgegen. "So gesehen ist sie Protest, aber sie ist auch ein Versprechen, sie ist Hoffnung. Sie ist das Aufblitzen einer anderen Seinsmöglichkeit."
So verkopft reden Metalheads selten. Die transzendentale Verzückung drückt sich beim Festival in der norddeutschen Provinz eher in einem schlichten Ruf aus: "Wacköööön", schallt es in diesen Tagen wieder über den aufgeweichten Acker.