Wer an diesem 11. Juni im Jahr 2000 auf der Expo-Plaza in Hannover dabei war, erinnert sich bis heute an das intensive religiöse Erlebnis. In einem EKD-Bericht schwärmt Margot Käßmann noch 16 Jahre später allein vom Sound der 1.600 Bläser und 800 Gospelsängerinnen, der die Zuhörenden emotional mitriss. Und dazu die Worte von Desmond Tutu. Für Käßmann ein "begnadeter Prediger".
Begnadet war Tutu schon allein aufgrund seines gekonnten Umgangs mit Sprache. Sein Stil war geprägt von Herzlichkeit, Lebendigkeit und Humor. Ihm ging es stets darum, mit seinen Worten das Publikum tief mit Gott zu verbinden. Er setzte dabei gezielt auf den Dialog. So auch an diesem Tag in Hannover: Schon die Begrüßung der Gottesdienstbesucher:innen ist warm und persönlich, rasch entwickelt sich Nähe. "Welch herrlich schöner Anlass, heute so viele wunderbare Menschen zu treffen! Wunderbare, wunderbare Menschen…" Mit dieser Begrüßung nimmt Tutu die Menschen mit auf seine gedankliche Reise, die von Hoffnung und Versöhnung erzählt.
Marschgepäck brauche es dafür nicht, sagt Tutu, nur den eigenen Glauben. Jeder trüge Gott in sich und besitze eine unantastbare Würde als Mensch: "Du bist für Gott geschaffen. Nichts anderes kann deine Sehnsucht stillen. Kein Auto, kein Haus, kein Bankkonto, kein Computer, kein Handy, kein Internet, keine Karriere, kein Ruhm, keine Macht, kein Sex, keine Drogen, kein Alkohol – nichts kann die Sehnsucht deines Herzens stillen außer Gott." Diese Worte sind eine klare Absage an Materialismus und Oberflächlichkeit.
Katja Eifler volontierte nach ihrer Studienzeit im Lokalradio im Rhein-Kreis Neuss. Anschließend arbeitete sie als Radioredakteurin. Später als Redaktionsleiterin eines Wirtschaftsmagazins am Niederrhein. Heute ist sie freischaffende Journalistin, Online-Texterin, Coach und Moderatorin. Seit April 2023 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Jeder Mensch sei aus sich heraus einzigartig und unverwechselbar. Ein Satz, der leicht kitschig wirken könnte – aber aus Tutus Mund wird er zu einem Akt der Würdigung. Dann fordert er die Gottesdienstbesucher:innen auf, genau dieses Besonders-sein als Chor laut hinaus zu rufen: "Ich bin eine sehr besondere Person", schallt es dann aus zahlreichen Kehlen in Hannover. (Englisch: I am a very special person).
Tutus Theologie ist radikal inklusiv und zutiefst menschlich. Die Würde jedes Menschen ist für ihn völlig unabhängig von Herkunft, Status oder sexueller Orientierung. "Jesus Christus sagt: Ich will alle zu mir rufen. Er sagte nicht, ich möchte nur ein paar bei mir haben.", predigt Tutu. Das umfasse Arme und Reiche, Gebildete und weniger Gebildete, Gays und Lesben. "Wir gehören alle zusammen als Gottes Familie, wir sind Schwestern und Brüder, so verschieden bunt wir auch sind - wie ein Regenbogen."
Der Mensch kann grausam sein
Besonders sei der Mensch, das stehe fest, aber in seiner Einzigartigkeit auch in der Lage, Grausames zu vollbringen, fährt er fort. Das reiche für ihn von den Schrecken der Apartheid bis zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus. In seiner Predigt berichtet er von einem Augenzeugen, der beschreibt, wie einem Menschen in den Kopf geschossen wurde, um ihn anschließend zu verbrennen. Weil das dauerte, grillten und aßen die Täter zeitgleich. Menschen seien zu monströsen Taten fähig, aber für ihn seien sie deshalb noch lange keine Monster, predigt Tutu weiter. Niemand sei verloren, Vergebung und Veränderung seien immer möglich. Der Grund? Für Tutu trägt der Mensch immer auch das Gute in sich selbst und dieses sei so stark "das Übel … nie das letzte Wort haben. Das Böse muss besiegt werden."
Hoffnung und Versöhnung waren für Tutu keine christlichen Floskeln. Sein Predigttext ist daher untrennbar mit seiner Biografie und der Geschichte Südafrikas verbunden. Jahrzehntelang hat Tutu gegen die rassistische Apartheids-Politik in seinem Land gekämpft und dafür im Jahr 1984 sogar den Friedensnobelpreis erhalten. Die Überwindung der Apartheid wertete er selbst als ein Wunder und eben als ein Zeichen dafür, dass das Gute letztlich siege. Mit seiner versöhnlichen Haltung wurde er nach Ende des Apartheidregimes Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission in der südafrikanischen Regierung von Nelson Mandela. Mit großer Hingabe setzte er sich in diesem Amt für eine friedliche Aussöhnung aller Beteiligten ein. "Wenn du neutral bist in Situationen der Ungerechtigkeit, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt."
In Hannover erinnerte er die Menschen in seiner Predigt daran, dass dieser Sieg über die Apartheid nur durch internationale Solidarität errungen werden konnte: "Wir hätten es nicht geschafft ohne Sie, ohne Ihre Gebete, Ihre Unterstützung, Ihre Ermutigung, Ihre Sanktionen und Ihre Demonstrationen." Damit verbindet Tutu an diesem Tag die Gottesdienstbesucher:innen mit den Menschen in Südafrika und schafft zeitgleich einen Zusammenhang zwischen der Geschichte der Unterdrückung und der globalen Verantwortung für Gerechtigkeit auf der Welt. Seine Dankbarkeit ist echt – und sie ist ein Appell, sich weiterhin weltweit für das Gute einzusetzen.
"Wenn du neutral bist in Situationen der Ungerechtigkeit, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt."
Die Erfahrung der Versöhnung nach der Apartheid prägte Desmond Tutus Verständnis von Kirche und Gesellschaft. Er rief unermüdlich dazu auf, Versöhnung zu leben und nicht neutral gegenüber dem Bösen zu bleiben: "Wenn du neutral bist in Situationen der Ungerechtigkeit, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt."
Tutu wollte Menschen ermutigen und Gemeinschaft stiften: "Und ihr, die ihr hier seid, ihr seid diejenigen, zu denen Gott sagt: Seid Hoffnungsträger, lasst euch neu dazu ermutigen, geht von hier in die Welt und verkündet: Diese Welt ist Gottes Welt und Gott hat das letzte Wort. Diese Welt ist für das Schöne und Gute gemacht, in dieser Welt sollen Frieden herrschen, Freundschaft und Zuneigung."
Desmond Tutu starb am 26. Dezember 2021 im Alter von 90 Jahren in einer Pflegeeinrichtung in Century City, Kapstadt. Seine Predigt in Hannover aber lebt weiter – als Zeugnis einer Theologie, die Menschen aufrichtet. In einer Welt, die heute erneut von Spaltungen, Hass und Gewalt geprägt ist, erinnert seine Botschaft Christ:innen an die Kraft des Guten, an die Möglichkeit der Versöhnung und an den universellen Wert der Menschenwürde. Er stellt damit auch uns die Frage: Wer wären wir als Kirche, als Gesellschaft, wenn wir Desmond Tutus Botschaft wirklich ernst nähmen?
Die Predigt im Wortlaut können Sie hier nachlesen.