"Der Nahe Osten leidet unter einem 'Messias-Fieber'"

Portrait von Andreas Goetze
Dagmar Brunk
Pfarrer Andreas Goetze ist als spiritueller Reiseleiter oft im Heiligen Land gewesen. Er war Vikar in Jerusalem und ist verbunden mit vielen Menschen in Israel und Palästina (Juden und Jüdinnen, Christ:innen sowie Muslimen).
Pfarrer Goetze zum Nahost-Konflikt
"Der Nahe Osten leidet unter einem 'Messias-Fieber'"
Pfarrer Andreas Goetze, ist Referent für den interreligiösen Dialog mit dem Schwerpunkt Islam und Christentum im Mittleren Osten im Zentrum Oekumene der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau und Kurhessen-Waldeck. Er ist seit über 30 Jahren spiritueller Reiseleiter im Heiligen Land. Im Interview mit evangelisch.de spricht er über das Leid der Menschen in Israel und Palästina, über Religion, die sich in Ideologie verwandelt und wünscht sich mehr Verständigung statt Hass.

evangelisch.de: Sie sind immer wieder in der Region. Wie wirkt sich der Iran-Israel-Konflikt auf die Situation der Menschen in Israel-Palästina aus?

Andreas Goetze: Ich stehe in engem Kontakt mit unseren Freundinnen und Freunden in Israel, Palästina und im Libanon. Zuletzt war ich Anfang Februar in Jerusalem und Bethlehem. Seitdem hat sich so viel getan, was gar nicht so recht in Worte zu fassen ist. Die Geiseln in der Hand der Hamas sind immer noch nicht frei. Das lässt auch viele Israelis völlig verzweifeln. Der neu aufgeflammte Gaza-Krieg hat alle in der Region aufgewühlt. Dazu die Hungerskatastrophe vor den Augen der Welt. So viele Tote und immer mehr Leid. 

Im Schatten des Gaza-Krieges baut zudem die rechtsgerichtete israelische Regierung in rasantem Tempo die für eine Demokratie nötige Gewaltenteilung ab und weitet ihre Kontrolle über den Staatsapparat aus. Und in der Westbank gibt es weiter die ständigen Übergriffe der radikalen jüdischen Siedler, die unter dem Schutz des israelischen Militärs in palästinensische Dörfer einfallen, Häuser besetzen, plündern oder zerstören. Das betrifft Christen wie Muslime gleichermaßen. Der völkerrechtswidrige Iran-Krieg ist nur eine nächste Eskalationsstufe, die den Menschen den letzten Atem raubt.

Was hören Sie von Ihren Kontakten vor Ort: Haben Menschen noch Hoffnung auf Frieden – oder wächst die Angst?

Goetze: Schon Anfang Februar habe ich die Menschen sehr erschöpft und ohne Hoffnung erlebt. Es wird immer aussichtsloser. Und nun noch der Iran-Krieg. Die Menschen haben schon lange keinen normalen Alltag mehr. Gerade die Kinder sind traumatisiert. Eine junge Frau aus Bethlehem sagte mir in diesen Tagen am Telefon: "Wir leben, aber das Leben hat keine Bedeutung". Jüdische Freunde in Tel Aviv pendeln zwischen Bunker und Wohnung, suchen Schutz und finden keine Ruhe. Und viele Menschen im Iran leiden nicht nur durch die Diktatur, in der sie leben müssen, sondern sind voller Angst und Trauer.

Andreas Goetze mit Wanderfriedenskerze in Jerusalem.

Über die Region Jerusalem und Bethlehem flogen in den letzten Tagen immer wieder Raketen aus dem Iran. Wenn sie abgeschossen werden, können Teile dieser Raketen wie Bomben auf die Häuser fallen. Davor haben die Menschen am meisten Angst. Die Familie eines jungen Arztes ist auf diese Weise umgekommen, das ist tragisch. Wir können über diese Entwicklung nur entsetzt sein.

"Die machtbesessenen Narzissten dieser Welt sind schlicht gottlos."

Welche Rolle spielt Religion in diesem Konflikt – eher als Problem oder als Teil der Lösung?

Goetze: Religion hat genug Potential, Menschen glücklich zu machen. Die machtbesessenen Narzissten dieser Welt sind schlicht gottlos. Das bleibt in Konflikten nicht ohne Folgen. Doch erst einmal möchte ich festhalten: Der Ursprung des Israel-Palästina-Konfliktes liegt nicht im Religiösen. Es geht um Land, Besitzrechte, zwei Völker auf demselben Territorium. Streit um den Verlauf von Grenzen. Es geht um Wasser, landwirtschaftliche Ressourcen, knappen Wohnraum. Dazu noch viele regionale und internationale Staaten mit ihren Eigeninteressen und Versuchen, Einfluss zu nehmen.

"Gegen diesen Missbrauch von Religion müssen Gläubige lautstark protestieren, weil das den liebenden, gerechten und barmherzigen Gott verrät."

In solch einer Gemengelage besteht immer eine Gefahr, dass sich Religion in eine politische Ideologie verwandelt. Man sagt dann: "Das Land ist uns von Gott verheißen" und reckt vor der UN-Vollversammlung die Torah als Beweis in die Höhe. Oder: "Das Land war schon immer ein waqf, eine muslimische Stiftung". Wenn Gott so missbraucht ins Spiel kommt, haben die anderen nichts zu lachen. Dann geht es um absolute Wahrheiten ohne Kompromiss. Gegen diesen Missbrauch von Religion müssen Gläubige lautstark protestieren, weil das den liebenden, gerechten und barmherzigen Gott verrät. Wir müssen jeden religiös aufgeladenen exklusiven Nationalismus hinterfragen, ob er von der israelischen Regierung kommt oder von der Hamas, vom Mullah-Regime im Iran oder von Donald Trump, der mit seiner "Make Amerika great again" Kampagne die Mehrheit evangelikaler Christen in den USA hinter sich weiß.

Wie wirkt sich das konkret in der Region aus?

Goetze: Religion wird dazu missbraucht, eigene Land- und Besitzansprüche unter Ausschluss der jeweils anderen zu legitimieren. Die ganze Landenteignungs- und Siedlungspolitik Israels in den letzten Jahrzehnten ist davon im Tiefsten geprägt. Dazu kommt, dass in allen drei religiös-nationalistisch ideologisierten Konfliktparteien endzeitliche Erlösungs-Phantasien eine immer größere Rolle spielen. Der ganze Nahe Osten leidet unter einem "Messias-Fieber": Da ist der jüdisch religiös-nationalistische Zionismus, der gerade das Regierungshandeln in Israel bestimmt: Da wurden schon die Staatsgründung Israels und die ersten Landeroberungen als Beginn der messianischen Erlösung gedeutet.

"Der ganze Nahe Osten leidet unter einem 'Messias-Fieber'"

Auf diese Weise werden Landenteignungen und Siedlungsbau zur religiösen Pflicht. Und natürlich will man das ganze Land "from the river to the sea", gerne auch mit dem Gaza-Streifen.Da sind die islamistischen Endzeitvorstellungen, besonders im schiitischen Islam. Sie erhoffen sich einen "Mahdi", einen "Rechtgeleiteten", der spätestens im Jüngsten Gericht den Muslimen das durch Gott gegebene "islamische Territorium" wieder zurückgibt, natürlich "from the river to the sea" und darüber hinaus: Die sunnitische Hamas ist nicht wirklich an Palästina und den Palästinensern interessiert. Sie will ein umfassendes islamistisches Kalifat in der Größe des ehemaligen Osmanischen Reiches. Das deckt sich zum Teil mit der Ideologie des IS in Syrien und des Mullah-Regimes im Iran, nur dass letztere eine schiitische Herrschaft anstreben.

Und dann ist ja da auch noch der sogenannte "Christliche Zionismus", eine apokalyptisch-endzeitliche Geschichtsschau. Nach ihr müssen alle Juden in das "gelobte Land", also nach Israel einwandern, damit sich die Verheißungen erfüllen und Jesus als Messias wiederkommen kann. Daher wird die Staatsgründung Israels als Beginn der Endzeit gedeutet. Und insbesondere US-amerikanische Evangelikale und andere rechts-ideologische Kreise geben Milliarden von Dollar als Spende an den Staat Israel für den Siedlungsbau.

Heiliges Land aus deren Sicht gehört "from the river to the sea" exklusiv den Juden, inklusiv einer Riviera im Gaza-Streifen, wenn es nach Trump ginge. Diese endzeitlichen Vorstellungen sind keine fromme Spinnerei, sondern höchst gefährlich. Das erleben wir aktuell.

Was können wir in Deutschland tun, um Hass zwischen Religionsgruppen zu verhindern? Wie können Kirchen in Deutschland dazu beitragen, dass jüdische und muslimische Menschen sich sicher fühlen?

Goetze: Wir brauchen vor allem mehr Verständigungsorte. Räume, in denen wir uns zuhören und lernen, den Schmerz und das Leid des anderen wahrzunehmen. Was nicht erzählt wird, trennt. Wir brauchen auch Raum für Trauer und Klage – und Stille. Soviel Leid ist geschehen, das ist unbeschreiblich, da fehlen mir oft die Worte. Kirche kann da eine ganz wichtige Rolle spielen, weil wir solche Räume eröffnen können. Oder die in vielen Städten aktiven "Räte der Religionen" oder "Runden Tische der Religionen". Ja, ich weiß, da ist manches zerbrochen. Aber ich habe in den letzten Monaten verschiedene mich so berührende Begegnungen erleben dürfen, bei denen jüdische und muslimische Gläubige sich von ihren Perspektiven erzählten und einander zuhörten. Wir müssen wieder aktiv und beherzt solche Gelegenheiten schaffen.

Was wünschen Sie sich von der Politik und der Öffentlichkeit – auch mit Blick auf den Umgang mit dem Nahostkonflikt hier bei uns?

Goetze: Bewahrt die Menschlichkeit! Verschliesst nicht die Augen vor dem Leid und der Trauer auch der jeweils anderen Seite. Ich wünsche mir, dass wir ehrlich sind und die Dinge beim Namen nennen. Gerade, wenn das Völkerrecht verletzt wird. Sonst wird es weiter ausgehöhlt. Und dass wir aufhören, in "Entweder-Oder"-Kategorien zu denken: Israel hat meines Erachtens keine Zukunft ohne eine friedliche Regelung des Nah-Ost-Konflikts und eine solche beinhaltet die Wahrung der universellen Menschenrechte. Sowohl an der Seite Israels in den Grenzen von 1949/67 zu stehen als auch das Völkerrecht zu verteidigen sind für mich beides Lektionen aus dem 2. Weltkrieg und der Shoah.

Aktuell ist es schlicht wichtig, noch mehr das Leiden der Menschen in der Region in den Blick zu nehmen und z.B. die Diakonie Katastrophenhilfe mit ihren Gaza-Projekten zu unterstützen. Und die mutigen, für Demokratie und Dialog stehenden Friedens- und Menschenrechtsgruppen vor Ort in Israel, Palästina, Libanon und Iran zu unterstützen und ihnen bei uns eine Stimme zu geben. Diese sind überall unter Druck und werden schnell als "ausländische Agenten" betitelt. Leider hat schon die alte Bundesregierung vielfach ihre finanzielle Unterstützung solcher Gruppen in Israel eingestellt. Das sollte schnellstmöglichst wieder rückgängig gemacht werden. Denn letztlich kann ein Wandel nur von innen kommen, auch im Iran. Sonst endet es wie in Afghanistan, Libyen oder dem Irak: nach dem Sturz des Regimes Bürgerkrieg, noch mehr Leid, Chaos und schlimmere Herrscher als vorher. Ich kann´s nur nochmal sagen. Zukunft gibt es nur durch geteilte Menschlichkeit.

Das Zentrum Oekumene der EKHN und EKKW unterstützt Friedens- und Dialogprojekte und damit zahlreiche, vor allem religiöse NGO´s in der israelischen wie palästinensischen Gesellschaft, die sich als Jüdinnen und Juden, Christ:innen und Muslim:innen für Frieden und Versöhnung einsetzen, die sich auf "healing memories" ausgerichtet haben und die ein unverzichtbares Reservoir an Perspektiven für ein gerechtes und friedvolles Zusammenleben im Land entwickelt haben. 

EKD und Diakonie Katastrophenhilfe fordern Freilassung der Geiseln, Ende der Gewalt und ungehinderten Zugang humanitärer Hilfe nach Gaza