Von Koran bis Kindergarten: "Anne Will" im Themenstrudel

Foto: iStockphoto/selimaksan
Ein Muslim liest angestrengt im Koran. Warum einige seiner jungen Glaubensbrüder zu radikalen Ansichten neigen, konnte auch in der ARD-Talkshow "Anne Will" nicht geklärt werden.
Von Koran bis Kindergarten: "Anne Will" im Themenstrudel
"Allah statt Grundgesetz – warum werden junge Muslime radikal?" lautete Anne Wills Thema am Mittwochabend in der ARD. Am Ende diskutierte die Runde vornehmlich über Betreuungsgeld und Kindergartenplätze.
25.10.2012
evangelisch.de

Talkshowmaster sind Generalisten. Woche für Woche müssen sie sich in neue Sachverhalte einarbeiten, um auf Augenhöhe mit ihren Gästen über komplexe Angelegenheiten debattieren zu können. Anne Will ist die Obergeneralistin der ARD. Nichts gegen frühere Sportmoderatorinnen, aber da sie trotz "Tagesthemen"-Karriere bei fast jedem Thema unbeholfen wirkt und sich den Gesprächsfaden rasch aus der Hand ziehen lässt, walzt sich die nach ihr benannte Sendung regelmäßig zu einem Themenmix mit bescheidenem Erkenntnisgewinn aus.

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Mit den Salafisten fing die Sendung an diesem Mittwoch an. Kürzlich wurde in Bonn einer von ihnen zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil er bei einer Demo mehrere Polizisten mit einem Messer verletzt hatte. "Wer den Propheten beleidigt, verdient die Todesstrafe", sagte er in dem Verfahren. Die Hauptverantwortung für seinen Gewaltausbruch trage der deutsche Staat, weil der nämlich die Beleidigung des Propheten erlaube. Auf dieses verquere Statement antwortet bei Anne Will pflichtschuldig Wolfgang Bosbach (CDU), Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses, dem wiederum der Grüne Volker Beck pflichtschuldig widerspricht.

Einig sind sich beide Herren immerhin darin, dass Muslime hierzulande genau das ertragen müssten, was auch Christen und Juden ertrügen. Doch ob die parteiübergreifend fromme Mahnung radikale Jünglinge überzeugt? Betül Durmaz, Förderschullehrerin aus Gelsenkirchen und Autorin des Buches "Döner, Machos und Migranten", beobachtet eine "Renaissance des Islam". Sie führt dafür aber eher soziale Ursachen an, das Ausgeschlossensein, die Suche nach Identität in der Religion. "Der Islam neigt zur Humorlosigkeit", fügt sie trocken hinzu.

Schalke verbieten, weil Hooligans Krawall machen?

Das ist selbst Serdar Somuncu anzumerken, der eigentlich Kabarettist ist und mit dem Programm "Hassprediger" auf der Bühne steht, wenn er nicht gerade Bücher schreibt ("Der Antitürke") oder bei Anne Will sitzt. Dort doziert er über Fußballfans, die sich prügeln, ohne dass jemand gleich das Verbot von Schalke 04 fordert, oder über Jörg Kachelmann, der ebenfalls deutsche Gerichte missachte: "Und dass er gewaltbereit ist, möchte ich auch nicht unbedingt bestreiten." Merke: Nicht alles, was hinkt, ist gleich ein Vergleich. Und nicht jede Verleumdung geht als Kalauer durch.

Anne Will. Foto: NDR/Andreas Rehmann

Über die Salafisten selbst ist in der Sendung herzlich wenig zu erfahren. Was sie denken, wie sie entstanden, wo sie sich ausbreiten, welchen Gewaltbegriff sie haben, wie sie im Islam gesehen werden? Fehlanzeige. Immerhin gibt es ein paar Zahlen. Mehr als vier Millionen Muslime leben in Deutschland, zwei Drittel von ihnen Türken, ein verschwindend geringer Anteil strenggläubig. Als radikal werden rund 40.000 Personen eingestuft, jeder zehnte ist Salafist. Ihre Zahl wachse zurzeit "besonders schnell" und mache deshalb Sorgen, so Bosbach.

"Sie sagen eisern gar nichts"

Nach einer geschlagenen halben Stunde fällt selbst Anne Will auf, dass einer ihrer Gäste noch kein Wort gesprochen hat. "Sie sagen eisern gar nichts", sagt sie also zu Heinz Buschkowsky. Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln und Buchautor ("Neukölln ist überall") antwortet, von Terrorismus verstehe er nichts. Doch zu den Salafisten hat er sehr wohl etwas zu sagen: Sie hätten sich in der Hauptstadt inzwischen in Radikale und Gemäßigte geteilt, mit den Ideologen brauche man gar nicht zu diskutieren, sie zielten auf junge Leute, die sich ausgegrenzt fühlten und "eigentlich apolitisch sind".

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Dann bereitet Buschkowsky den Boden für die Diskussion hinter der Diskussion, indem er von den 70 Prozent Kindern beginnt, die in seinem Bezirk unter Hartz-IV-Bedingungen aufwachsen. Schnell ist die Runde bei Frühförderung, Kitas und Betreuungsgeld ("Herdprämie") – und klappt die üblichen Schemata aus: Sekundiert vom grünen Beck, zofft sich Basispädagogin Durmaz mit dem konservativen Bundestagsveteranen Bosbach, und kurz vor dem Wegzappen sagt sie den wegweisenden Satz: "Es ist ein Schichtenproblem, kein ethnisches Problem." Na also. Verstanden, bitte setzen.

Der Aufstiegswille fehlt

Der Neuköllner Bezirkschef bringt nun noch rasch ein paar Dinge auf den Punkt, die aus migrantischer Sicht nicht sehr nett klingen: "Wir haben keine Arbeit mehr für die Menschen. Wir haben sie angeworben für die Fließbänder. Die Bänder stehen inzwischen in Asien." Vielen jungen Leuten fehle der Aufstiegswille. Die Schuld daran gibt Buschkowsky hauptsächlich den Eltern. Deshalb: "Wir werden ohne verbindliche Vorschulerziehung und Ganztagsschulen die Probleme nicht lösen." Dass Neukölln gleichwohl nicht überall ist, gibt Bosbach zu bedenken: Stuttgart und München, die Städte mit höchsten Ausländerquote, stehen bei den Erwerbslosenzahlen blendend da.

So neigen sich 75 Minuten dem Ende entgegen, an dem Kabarettist Somuncu immerhin noch ein paar Lacher auf sich zieht: Er schwadroniert von einer fiktiven TV-Sendung "Schwiegertochter sucht Frau", eine charmante Anspielung auf Wills Homosexualität. Von Allah hingegen oder vom Grundgesetz war in der Sendung kaum die Rede. Warum junge Muslime radikal werden? Gute Frage. Sie geht unter in der schönen neuen Talkshowanarchie – Anne Will in schierer Verzweiflung: "Herr Beck, jetzt lassen Sie mich doch auch einmal ausreden!"