TV-Tipp: "Wer wir sind"

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15. November, ARD, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Wer wir sind"
Die Krisen der letzten Jahre haben zu Rissen geführt, die selbst Familien entzweien. Das gilt auch für die Maßnahmen gegen den Klimawandel: hier die Jungen, für die es um nicht weniger als den drohenden Weltuntergang geht, dort die Alten, die die Sache verbockt haben, aber nicht akzeptieren wollen, dass sich etwas ändern muss; und davon erzählt "Wer wir sind".

Hauptfigur ist Schülerin Luise, herausragend in den Fächern Chemie und Physik, die eher durch Zufall Mitglied der Öko-Initiative "Red Flag Halle" wird. Weil sie erst 17 ist, geht es in der sechsteiligen MDR-Serie auch um jugendliche Orientierung: Dass sich das behütet aufgewachsene Mädchen umgehend bereiterklärt, bei einer illegalen Aktion mitzumachen, hat nicht zuletzt mit der verwirrenden Faszination zu tun, die die gleichaltrige Aktivistin Vanessa auf sie ausübt.

Mit Lea Drinda (Jahrgang 2001) und Mina-Giselle Rüffer (2003) sind die beiden Rollen vortrefflich besetzt, selbst wenn ihre Serienfiguren deutlich jünger sind; Drinda war letztes Jahr unter anderem ganz famos in der Neo-Serie "Becoming Charlie", Rüffer, zuletzt Hauptdarstellerin der ZDFneo-Serie "Was wir fürchten", ist für ihre intensive Darstellung in der fünften Staffel der Webserie "Druck" (2021) mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden.

Zweite zentrale Figur ist allerdings Vanessas Bruder. Dennis ist 16 und ein wandelndes Pulverfass; ein Funke genügt, und er geht in die Luft. Gegenüber seinem kleinen Bruder ist er jedoch auf berührende Weise liebevoll; Florian Geißelmann (Jahrgang 2004) ist ein echter Rohdiamant, seine Leistung hat jeden Nachwuchspreis verdient. Gut getroffen ist auch das Milieu, selbst wenn die Umstände klischeehaft wirken: Mutter Jennifer (Natalia Rudziewicz) hat ihre beiden älteren Kinder bekommen, als sie selbst noch ein Kind war, und sich seither offenbar nicht nennenswert weiterentwickelt. Ihr derzeitiger Lebensgefährte ist ein Nazi-Hooligan, dem man nicht im Dunkeln begegnen möchte; erst recht nicht mit anderer Hautfarbe.

Gegenentwurf ist Luises Familie, aber auch das nur auf den ersten Blick: Zwischen Catrin Kogan (Franziska Weisz), Hauptkommissarin, und Ehemann Alexandr (Shenja Lacher) kriselt es kräftig. Er ist Sozialarbeiter im Hallenser Haus des Jugendrechts, einer Auffangstation für straffällig gewordene Jugendliche; hier ist auch Dennis untergebracht. 

Auslöser der Handlung ist eine aus dem Ruder gelaufene Aktion von Red Flag: Als Neonazis die Demo aufmischen, sieht Catrins rassistischer Kollege Marco (Robin Sondermann) rot und lässt seine Wut ausgerechnet an einem jungen Schwarzen aus; dabei hatte Felix (Chieloka Jairus) den Beamten bloß höflich auf seine Bürgerrechte hingewiesen. Sein Vater ist Staatsekretär, weshalb Marcos Überreaktion nicht ohne Folgen bleibt.

Geschickt verknüpft das Drehbuch von Marianne Wendt und Christian Schiller (unterstützt durch Magdalena Grazewicz) die verschiedenen Handlungsstränge im winterlichen Halle (Saale) zu einer Erzählung, die sich viel Zeit für die einzelnen Figuren nimmt. Durch alle Ebenen zieht sich der Konflikt zwischen Eltern und Kindern. Bei Dennis sind die Ursachen offenkundig, aber auch Luises Mitstreiter Niklas (Joshua Hupfauer) leidet unter einer Form von Verwahrlosung: Seine Mutter (Anne-Kathrin) hat vor lauter politischem Engagement keine Zeit für ihren Sohn. Dass Niklas auf tragische Weise Schuld an einer schweren Verletzung Vanessas ist, hat ihn zusätzlich erschüttert. Er treibt die Gruppe schließlich zu einer Verzweiflungstat, die in eine weitere Tragödie mündet. 

Klug sorgen Wendt und Schiller dafür, dass die Motive der Jugendlichen nachvollziehbar sind, zumal sie längst den Glauben an die Generation ihrer stets beschwichtigenden Eltern verloren haben; selbst Catrin, sicher keine Klimaleugnerin, bezeichnet die Mitglieder von Red Flag mal als "gewaltbereite Idioten". Kein Wunder, dass die Kinder in ihrer Mischung aus Angst und Wut irgendwann bereit sind, radikale Maßnahmen zu ergreifen. "Mach’ kaputt, was dich kaputt macht", zitiert Niklas eine klassische Sponti-Devise. "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt" hätte auch gepasst. 

Die jungen Mitwirkenden machen ihre Sache ausnahmslos ausgezeichnet (Regie: Charlotte Rolfes), aber natürlich war die Besetzung des Gegenspielers nicht minder wichtig. Jörg Schüttauf ist als potenzieller Sympathieträger ohnehin ein formidabler Schurke: Recycling-Unternehmer Daniel Noll mimt in der Öffentlichkeit den Umweltschützer, aber dank Luise kann Red Flag ihm nachweisen, dass er illegal Giftmüll entsorgt. Das "Erste" zeigt heute um 20.15 Uhr die Episoden 1 bis 3, der Rest folgt am Freitag ab 22.20 Uhr; die Serie steht bereits komplett in der ARD-Mediathek.