TV-Tipp: "Die Macht der Frauen"

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30. Oktober, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Die Macht der Frauen"
Es ist wie schon in "Wahrheit oder Lüge" (2020), dem ersten Film mit Natalia Wörner als Anwältin, erneut dünnes Eis, auf das sich Lars Becker (Buch und Regie) begibt.

Die Verletzungen der Frau sind dokumentiert, sie war mehrfach in der Notaufnahme. Von einer Vergewaltigung war allerdings nie die Rede, und weil sie jedes Mal eine Ausrede für die Blutergüsse und Prellungen hatte, steht nun Aussage gegen der Aussage: Hat Leon Markowitz (David Schüttler) Gattin Doreen (Nurit Hirschfeld) tatsächlich regelmäßig Gewalt angetan und sie vergewaltigt? Oder hat sie womöglich doch, wie er behauptet, mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen, sodass er sie vor sich selbst schützen musste?

Seit sich im Herbst 2017 rausgestellt hat, dass der amerikanische Filmproduzent Harvey Weinstein Mitarbeiterinnen regelmäßig sexuell missbraucht hat, neigt die öffentliche Meinung auch dank der "#MeToo"-Kampagne dazu, den Opfern eher zu glauben als den Tätern. Vor Gericht gilt allerdings nach wie vor die juristische Maxime "Im Zweifel für den Angeklagten"; aus dieser Diskrepanz zwischen gefühlter Wahrheit und Urteilsfindung resultiert die Spannung des Films. Der Titel, "Die Macht der Frauen", entpuppt sich ohnehin als irreführend, denn in der Verhandlung steht Aussage gegen Aussage, zumal Markowitz dank der cleveren Strategie seines Verteidigers unversehens vom Täter zum Opfer wird. Der Prozess endet mit einem Schock. 

Im ersten Film hatte Becker die Rolle der Anwältin offenkundig Donna Rotunno nachempfunden; viele Menschen konnten nicht verstehen, dass ausgerechnet eine Frau Harvey Weinstein verteidigte. Damals hat Annabelle Martinelli noch für John Quante (Fritz Karl) gearbeitet. Ihr Chef und Geliebter hatte sie gebeten, einen Freund zu vertreten, der seine Assistentin vergewaltigt haben sollte.

Mittlerweile hat die Anwältin Quantes Kanzlei zwar sowohl beruflich wie auch privat verlassen, aber natürlich laufen sie sich prompt wieder über den Weg, denn der mit allen Abwassern gewaschene Jurist hat den Fall Markowitz übernommen. Ein kleiner Drehbucheinfall ergänzt die Ereignisse um einen diffizilen Aspekt: Der gewalttätige Ehemann ist Polizist, sogar mit Auszeichnung.

Der Korpsgeist gerade unter den männlichen Beamten hat prompt zur Folge, dass ein Kollege (Slavko Popadic) nach dem Besuch der Wohnung des Ehepaars im Bericht notiert, es habe keinen Hinweis auf häusliche Gewalt gegeben. Den gab es allerdings durchaus; er hat ihn jedoch verschwinden lassen. 

Wie in "Wahrheit oder Lüge" gibt es auch diesmal eine zweite Ebene, auf der es ungleich prominenter zu geht. Die beiden Stränge überschneiden sich kurz, aber davon abgesehen ist die einzige Gemeinsamkeit das Delikt der häuslichen Gewalt. In diesem Fall gerät Martinelli allerdings in einen Interessenskonflikt, als sie Besuch von der Ehefrau eines Staatssekretärs bekommt. Die Frau (Sabrina Amali) ist Muslimin und trägt ein Kopftuch, das nicht nur einen religiösen Zweck erfüllt: Bei einer Handgreiflichkeit hat Ehemann Ramy ihr eine erhebliche Verletzung am Ohr zugefügt. Die Anwältin hat Ramy Khalifa (Mohamed Achour) in einem früheren Fall von Diskriminierung vertreten, deshalb will sie nun nicht das Mandat seiner Frau übernehmen. Eine weitere Schnittmenge der beiden Ebenen ist das Frauenhaus, in dem sowohl Doreen wie auch Zora nacheinander Zuflucht vor ihren Männern gefunden haben. Hier treffen beide auf Monique (Mira Elisa Goeres), die von ihrem Freund (Tim Kalkhof) zur Prostitution gezwungen wird: Wenn sie nicht spurt, setzt es Schläge. Monique repräsentiert gewissermaßen die Straße; häusliche Gewalt zieht sich quer durch alle Schichten. 

Der Regisseur hat seine "Nachtschicht"-Krimis schon divers besetzt, als der Begriff noch nicht in aller Munde war. Das macht seine Filme authentischer, selbst wenn auch diesmal einige Ensemblemitglieder gerade im Vergleich zu den erfahrenen Profis wie Rohdiamanten wirken. Zur Realitätsnähe gehört zudem der Aspekt, dass Becker keine heile Welt vorgaukelt. Das gilt nicht nur für die erschütternde Entwicklung im Fall Markowitz, sondern auch für das Akademikerehepaar Khalifa: Dem Mann tut anschließend aufrichtig leid, was er seiner Frau zufügt; ihre Schmerzen lindert das trotzdem nicht. Viele frustrierende Erkenntnisse streut Beckers Drehbuch auch bloß beiläufig ein. Doreen zum Beispiel will nicht, dass die Polizei kommt, weil dann das ganze Haus erfährt, was beim Ehepaar Markowitz los ist. Die Anwältin entgegnet kühl, die Nachbarn wüssten längst Bescheid – "auch wenn alle schweigen."