Die Liebe - ein lebenslanges Übungsfeld

Stillleben ausgeschnittenes Herz und Leiter
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Die Jahreslosung 2024 lautet: Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe." (1. Korinther 16,14)
Auslegung zur Jahreslosung 2024
Die Liebe - ein lebenslanges Übungsfeld
Sie klingt harmonisch und leicht, die Jahreslosung für 2024: "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe." (1. Korinther 16,14). Doch im Kontext gelesen und in unsere Zeit hineingesprochen ist dieser Leitvers an Anspruch und Tragweite kaum zu überbieten: Liebe ist eine christliche Lebenshaltung.

Paulus musste ein Machtwort sprechen. In der von ihm um 50 n.Chr. gegründeten christlichen Gemeinde in Korinth ging es drunter und drüber. Menschen aus verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten trafen hier zusammen, es kam zu Spannungen und Konflikten, und manche waren unsicher, was ihnen nach dem neuen Glauben erlaubt war und was nicht.

Einige Jahre nach der Gemeindegründung sah sich der Apostel veranlasst, seiner Gemeinde zwei Briefe zu schicken, um ihnen Orientierung zu geben. Seinen ersten Brief schließt Paulus mit Ermahnungen und Grüßen, und in diesem Schlussteil findet sich der Vers, der zur Jahreslosung für 2024 geworden ist: "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe." (1. Kor 16,14)

Wie immer hat die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen die Jahreslosung ausgewählt. Der Vers aus dem 1. Korintherbrief stand dabei in Konkurrenz zu einem Wort des Propheten Jesaja: "So spricht der Herr: Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit." (Jesaja 56,1). Doch, so erzählt der ÖAB-Vorsitzende Wolfgang Baur: "Unsere Mitarbeiterin aus Polen sagte, sie kann den Jesaja überhaupt nicht hören, denn die PiS-Partei hat genau dieses Jesajawort ‚Recht und Gerechtigkeit‘ auf ihre Flaggen geschrieben – tut aber genau das Gegenteil."

Man berücksichtigte den Einspruch der deutschsprachigen Minderheit in Polen, nahm die Diskussion wieder auf und entschied sich dann einmütig für den Vers aus dem 1. Korintherbrief, "in dem nicht nur die Inhalte aus Jesaja inbegriffen sind, sondern noch viel mehr", sagt Baur.

Fundamente bewahren, produktiv sein

Die Jahreslosung, die im deutschsprachigen Raum und damit übrigens neben Polen auch im Elsass zum Leitwort für 2024 wird, folgt der Einheitsübersetzung und ist wortgleich mit der Zürcher Bibel: "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe." Noch näher am griechischen "panta hymon en agape ginestho" ist die Elberfelder Bibel mit der Version "Alles bei euch geschehe in Liebe!" - denn "was ihr tut" steht streng genommen nicht im Original. Das Verb ginestho – von ginomai, hier: sich ereignen, geschehen, stattfinden – steht im Passiv, es geht also mehr darum, alles in Liebe "geschehen zu lassen".

Wolfgang Baur sieht den Vers 14 als Gegenstück zu einem Teil von Vers 13: "Steht fest im Glauben." Das erinnere ihn an das katholische Kirchenlied "Ein Haus voll Glorie schauet" (Joseph Mohr 1875), "dieses fest gebaute Haus der Kirche, nicht zu erschüttern, konservativ – der Glaube ist nicht umzuwerfen".
"Aber es geht bei der Kirche und beim Glauben nicht nur darum, die Fundamente zu bewahren, sondern es geht darum, produktiv zu sein", sagt der Theologe.

Umfassende Dimension

Das Verb ginomai steckt auch in "Genesis" - also etwas, das im Werden begriffen ist, etwas Neues, das entsteht. Solches Werden wird nicht nur bei der Schöpfung am Anfang des Alten Testaments beschrieben, sondern auch zu Beginn des Neuen Testaments: "Es ist die Genesis Jesu Christi, also etwas unglaublich Schöpferisches."

Mit den Worten "panta hymon" – "alles bei euch" – bekommt die Jahreslosung eine sehr umfassende Dimension: "Es gibt nichts in der Kirche, was notwendigerweise konservativ bewahrend sein muss, sondern alles darf und soll im Fluss sein und sich entwickeln. Und wenn als Motor die Liebe dahintersteckt, dann braucht man keine Angst davor zu haben." Man sollte das Lied "Ein Haus von Glorie schauet" umschreiben in "Ein Haus voll Liebe schauet", meint Wolfgang Baur.

Verschiedene Arten der Liebe

Für Liebe steht in dem Vers das Wort "Agape", die uneigennützige, zwischenmenschliche Liebe – in Abgrenzung zu Eros, der erotischen Liebe, oder Philia, der freundschaftlichen Liebe. "Die Quelle der Liebe ist für Paulus Gott selbst. So ist die Agape für Paulus letztlich die Liebe Gottes", bringen es Jens-Christian Maschmeier und Peter Wick im Artikel "Agape" auf bibelwissenschaft.de auf den Punkt. "Wenn sie von Gott her durch den Heiligen Geist in die Herzen ausgegossen worden ist, so wird sie auch in den Menschen wirksam."

Die Rede von der Agape, in der sich die göttliche mit der zwischenmenschlichen Liebe verbindet, zieht sich durch das gesamte Neue Testament, besonders explizit bei Johannes: "Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe." (Johannes 15,9-12)

Keine Emotion, sondern Lebenshaltung

In den synoptischen Evangelien verküpft Jesus die beiden alttestamentlichen Liebesgebote (Gottesliebe, 5. Mose 6,5 und Nächstenliebe, 3. Mose 19,18) zum Doppelgebot der Liebe: "Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.‘ Das andre ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Es ist kein anderes Gebot größer als diese." (Markus 12,29-31).

Liebe als Gebot: Geht das überhaupt? Kann man Liebe vom Gefühl lösen und einen anderen Menschen willentlich und bewusst "lieben"? Liebe ist in diesem Sinne eben keine Emotion, sondern eine Lebenshaltung, die sich aus Gottes Liebe speist und aus der sich Worte und Taten ergeben. Wolfgang Baur spricht von einem "lebenslangen Übungsfeld" und nennt ein Beispiel: "Wenn ich morgens aus der Haustür gehe mit dem Bewusstsein: Ich will andere Menschen anschauen als von Gott geliebte Menschen, dann kann ich einen anderen Menschen ertragen, auch wenn er mich noch so sehr nervt. Denn aus einem Grund, den ich niemals verstehen werde, liebt Gott diesen Menschen."

Eine Theologie der Liebe

Der Apostel Paulus weiß, wie schwierig, aber auch wie wichtig es ist, die Mitmenschen zu lieben. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth entwickelt er eine ausgeprägte Liebestheologie. Das sogenannte Hohelied der Liebe ist einer der schönsten Texte im neuen Testament: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. ..." (1. Korinther 13,1-13)

"Paulus zählt ganz tolle Fähigkeiten auf, die ein Mensch haben könnte", analysiert Wolfgang Baur. "Ich denke an Dinge, nach denen wir heute streben: Superdatenbanken, KI, die alles möglich macht, Kriege und Hungersnöte und Krankheiten eingrenzen... und dann sagt der Paulus: Selbst wenn ich alle Fähigkeiten hätte, es wäre nichts ohne Liebe, es wäre völlig wertlos. Und er schließt mit einer Eigenschaft, die wie eine salvatorische Klausel klingt: Liebe lässt sich nicht beseitigen, sie hört einfach nicht auf!"

Gesellschaftliche Relevanz

Dieser Aspekt gebe der Jahreslosung für 2024 noch eine weitere Dimension, meint der ÖAB-Vorsitzende: "Christliche Lebenshaltung ist nachhaltig. Es gibt diese Liebe über den Tod hinaus." Aus gutem Grund wird der Schlussvers von Paulus‘ poetischem Text häufig zur Taufe, Konfirmation, Trauung oder auch Beerdigung gewählt: "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen." (1. Korinther 13,13)

Agape als christliche Grundhaltung – da geht es für Wolfgang Baur nicht nur um persönlichen Glauben oder den Umgang miteinander innerhalb der Gemeinde, sondern auch um gesellschaftliche Themen – zum Beispiel die erneut aufgeflammte Debatte um die wachsende Zahl von Flüchtlingen in Europa.

Wie kann die Jahreslosung "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe" hier konkret umgesetzt werden? Zwar hält Baur die Rede von "Obergrenzen" und "Belastungsgrenzen" für verständlich und die Ängste und Gefahren für real. "Aber wir sind zunächst mal herausgefordert, die Menschen in den Blick zu nehmen, die Hilfe brauchen. Das ist eigentlich ein Inbegriff von Liebe. Da sind die Kirchen aufgerufen, aufzustehen und zu sagen: Bei allem, was passiert: Die Liebe muss eine Rolle spielen."