Keine Durchsuchungen der Bistümer bis Anfang 2023

Skulptur des Essener Kardinals Franz Hengsbach
© Christoph Reichwein/dpa
Späte Demontage: Die Skulptur des Ruhrbischofs Franz Hengsbach wird vor dem Essener Dom abgebaut. Gegen den beliebten Kardinal gibt es massive Missbrauchsvorwürfe.
Missbrauch in der Kirche
Keine Durchsuchungen der Bistümer bis Anfang 2023
Die Zentralen der 27 katholischen Bistümer in Deutschland sind laut einer WDR-Umfrage unter den zuständigen Staatsanwaltschaften im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen in den vergangenen Jahren nicht durchsucht worden. Dies sei erst Anfang 2023 geschehen. Grünen-Justizminister Limbach weist den Vorwurf der Schonung durch die Staatsanwaltschaften zurück. Unterdessen haben sich im Bistum Essen weitere mutmaßliche Missbrauchsopfer von Kardinal Hengsbach gemeldet.

Im Jahr 2010 erhoben katholische Kleriker wie der Jesuitenpater Klaus Mertes Vorwürfe, dass es massive Missbrauchsfälle von Kindern und Schutzbefohlenen in der katholischen Kirche durch ihre Angestellten, Kleriker, Ordensleute und Lehrer gegeben habe. Doch Jahre vergingen bis Studien in Auftrag gegeben wurden. Es gab sogar Bistümer, die Studien wieder abbrachen.

In dieser Zeit wurde offenbar keine der Zentralen der 27 katholischen Bistümer in Deutschland laut einer Umfrage des WDR unter den zuständigen Staatsanwaltschaften im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen in den vergangenen Jahren durchsucht. Eine erste staatsanwaltliche Durchsuchung in München erfolgte danach erst Anfang 2023. Wie der WDR am Montag in Köln berichtete, sei bis zu diesem Zeitpunkt seit der Enthüllung von Missbrauchsfällen durch katholische Kleriker 2010 keine der Ermittlungsbehörden in dieser Hinsicht aktiv geworden.

Der Mainzer Strafrechtsprofessor Jörg Scheinfeld kritisierte dies. Die Staatsanwaltschaften hätten die Bistümer durchsuchen lassen sollen, sagte er dem WDR. Man könne sich nicht darauf verlassen, dass Bischöfe freiwillig Akten herausgäben, mit denen sie sich möglicherweise selbst belasten würden.

Im Jahr 2018 war die sogenannte MHG-Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von Wissenschaftlern der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen veröffentlicht worden. Die Forscher waren Hinweisen auf Missbrauchsfälle zwischen 1946 und 2014 in allen katholischen Diözesen in Deutschland nachgegangen. Unter der Annahme eines Dunkelfelds beschäftigten sich die Wissenschaftler mit 1.670 beschuldigten Klerikern, die 3.677 Kinder und Jugendliche missbraucht haben sollen.

Strafrechtsprofessoren erstatteten Anzeige

Aufgrund dieser Zahlen erstatteten sechs Strafrechtsprofessoren Anzeige gegen Unbekannt, um die Staatsanwaltschaften zum Handeln zu bewegen. Zu ihnen gehörte der Strafrechtler Rolf Herzberg aus Wuppertal. Im WDR verwies er auf den Fall eines inzwischen verurteilten Pfarrers des Erzbistums Köln. Die Staatsanwaltschaft Köln hätte weiter ermitteln können, auch nachdem zwei betroffene Nichten des Geistlichen ihre Anzeige zurückgezogen hatten.

Rein juristisch sei vielleicht kein Fehler gemacht worden, sagte Herzberg. Doch dass die Zeuginnen nicht aussagen wollten, habe nicht die "handfesten Tatsachen" beseitigt. Der Pfarrer wurde schließlich 2022 zu zwölf Jahren Haft wegen des jahrzehntelangen Missbrauchs von mindestens 15 Mädchen verurteilt.

Minister weist Vorwurf der Schonung zurück

Den Vorwurf der Zurückhaltung der Ermittler bei möglichen kirchlichen Tätern wies im WDR der nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) zurück. Die Staatsanwälte gingen bei jedem Anfangsverdacht gleich vor. Das Legalitätsprinzip, "also die Verpflichtung, bei Verdacht von Straftaten einzuschreiten, besteht für alle, unabhängig von Geldbeutel oder Kardinalshut", sagte er dem WDR.

Er könne für frühere Zeiten allerdings nicht ausschließen, dass Staatsanwälte im Umgang mit Klerikern vielleicht anders umgegangen seien als mit anderen Tätern, räumte Limbach ein. "Wichtig ist mit, dass wir seit Aufdecken der Riesenskandalserie innerhalb der Kirchen wirklich konsequent bei jedem Verdacht vorgehen." Allerdings seien die Mittel der Justiz begrenzt, betonte er. Nach weiteren Studien, teilweise im Auftrag der Bistümer, habe sich gezeigt, dass viele der geschilderten Fälle bereits verjährt oder die Täter tot sind. Dies betreffe etwa auch die jüngst bekannt gewordenen Vorwürfe gegen den ersten Ruhrbischof Franz Hengsbach.

Hinweise auf weitere Missbrauchsopfer im Fall Hengsbach

Beim Bistum Essen haben sich laut Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck weitere mutmaßliche Missbrauchsopfer von Kardinal Franz-Josef Hengsbach gemeldet. "Aber ich weiß noch nicht wie viele", sagte er am Sonntagabend im WDR Fernsehen. "Das wird jetzt alles durch Gespräche entsprechend geklärt und dann werde ich informiert werden."

In der vergangenen Woche hatte das Bistum mitgeteilt, dass gegen den Gründerbischof des Ruhrbistums "gravierende" Missbrauchsvorwürfe erhoben worden seien. Die drei bislang bekannten Fälle beziehen sich auf die 1950er und 1960er Jahre. Hengsbach war bis kurz vor seinem Tod 1991 Bischof in Essen, zuvor war er Weihbischof im benachbarten Erzbistum Paderborn.

Overbeck sagte dem WDR: "Das Entsetzen, das erlebe ich in diesen Tagen auch, ist deswegen so groß, weil er eben so eine wichtige Identifikationsfigur für unser Bistum gewesen ist." Ihm sei wichtig, "dass auch die Leute ermutigt werden, sich zu melden, die gerade wegen der Popularität meines Vorgängers, sich nicht getraut haben, was zu sagen".

In einem am Freitag veröffentlichten Schreiben an die Gemeinden hatte Overbeck um Entschuldigung gebeten. Nachdem ein erster Vorwurf 2011 bekannt geworden und vom Vatikan als nicht plausibel eingestuft wurde, habe er nichts weiter unternommen, weil er den Fall als bearbeitet angesehen habe. Er habe deshalb auch ein Forschungsteam nicht auf diesen Vorgang aufmerksam gemacht, das die im März vorgestellte Aufarbeitungsstudie zu sexuellem Missbrauch im Bistum erarbeitet hatte.

Bätzing: "Die Wahrheit muss auf den Tisch"

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, hofft, dass sich die Missbrauchsvorwürfe gegen Hengsbach, aufklären lassen. "Die Wahrheit muss auf den Tisch", sagte Bätzing, der das Bistum Limburg leitet, am Montag in Wiesbaden zu Beginn der Herbst-Vollversammlung der Bischofskonferenz. Die Vorwürfe brächten auch die Bischofskonferenz in eine schwierige Situation.

Bätzing sagte, Betroffene sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche kämen nur zu ihrem Recht, wenn alles auf den Tisch komme. Die Bischöfe beraten bei ihrer bis Donnerstag dauernden Tagung auch schwerpunktmäßig über die Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch. Unter anderem soll am Dienstag ein neues Papier zum Umgang mit dem Missbrauch geistlicher Autorität vorgestellt werden.