TV-Tipp: "Vatersland"

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13. September, Arte, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Vatersland"
Wenn von der Idee bis zur Fertigstellung eines Films 17 Jahre vergehen, handelt es sich garantiert um ein sehr persönliches Werk. Auf den ersten Spielfilm von Petra Seeger trifft dies gleich in mehrfacher Hinsicht zu: "Vatersland" ist eine fiktionalisierte Autobiografie in Bildern.

Die erfahrene Dokumentarfilmerin Petra Seeger setzt sich fast zwei Stunden lang mit ihrer Kindheit und Jugend im Rheinland auseinander. Wer diese Zeit in den Sechziger- und Siebzigerjahren selbst erlebt hat, wird mit vielen Details aus der eigenen Biografie konfrontiert, und das nicht nur wegen der historischen Ereignisse: Der Vater repräsentiert den Geist einer Epoche, der auch 1968 nicht vollständig vertrieben werden konnte. Seegers Film ist eine radikal subjektive und gerade deshalb objektiv nachvollziehbare Analyse jener Jahre. 

Die eigentliche Handlung beginnt mit einer Truhe. Sie enthält das optische Gedächtnis der Familie. Der Vater war Werksfotograf und ist seinem Beruf auch privat nachgegangen; die Kiste ist voller Fotos und 16mm-Filmen, die bei Marie (Margarita Broich) umgehend haufenweise Erinnerungen in Gang setzen. Sie ist mit 48 Jahren jetzt so alt wie ihre Mutter bei deren Krebstod, ihre zehnjährige Tochter ist heute so alt wie Marie damals. Fortan springt der Film ständig zwischen den beiden Zeitebenen hin und her; das umfangreiche Bildmaterial aus der Truhe wird immer wieder integriert. Dass Seeger (Buch und Regie) in der Gegenwart auch noch eine Ehekrise einflicht, wäre gar nicht nötig gewesen; es wird auch so mehr als deutlich, wie sehr Marie durch die Rückbesinnung in ihren Grundfesten erschüttert wird. 

"Die Unfähigkeit zu trauern" (1967) von Alexander und Margarete Mitscherlich ist eine der berühmtesten Auseinandersetzungen mit der mehr als mangelhaften Vergangenheitsbewältigung der Deutschen in der Ära Adenauer. "Vatersland" ist gewissermaßen der Film zu der Psychoanalyse eines Volkes. Maries Vater ist ein typisches Produkt dieser Zeit, was Seeger durch ein beredtes Bild illustriert: Als das Kind bei der Beerdigung der Mutter nach seiner Hand greift, zieht er sie weg. Viele seiner Sätze klingen nach Klischee ("So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst"), stammen aber geradewegs aus der Wirklichkeit; Bernhard Schütz trifft diesen Typus Mensch gruselig gut. Der Mann ist nicht mal bösartig, weshalb ihn der Film auch nicht verurteilt; er weiß es einfach nicht besser. Weil er mit der Erziehung seiner Tochter völlig überfordert ist, behilft er sich mit Strenge. Ihre erwachende Sexualität ist ihm überhaupt nicht geheuer.

Schließlich steckt er das Mädchen in ein katholisches Klosterinternat, wo Marie prompt vom Regen in die Traufe kommt, denn auch hier wird das Dasein selbstredend von einem Über-Vater dominiert, dessen vermeintlicher Wille von den strengen Nonnen umgesetzt wird. Auch für die Entlarvung der Bigotterie jener Zeit genügt eine kurze Szene: Als Marie beichtet, sie habe unschamhafte Gedanken gehabt, möchte der Priester Details wissen. 

Mit sich selbst ist Seeger nicht weniger kritisch: Marie entwickelt trotz ihrer Erziehung zur Angepasstheit eine gewisse Aufmüpfigkeit, was die Aufgabe des alleinerziehenden Vaters nicht leichter macht. Als die Mutter (ebenfalls Margarita Broich) noch lebt, wünscht sich das Kind, sie wäre tot, weil es sich dauernd um sie kümmern muss.

Ansonsten konzentriert sich "Vatersland" auf den Emanzipationsprozess einer jungen Frau, die sich vergeblich schon früh für den Beruf des Vaters interessiert. Als Marie ihm sagt, dass sie später auch Fotografin werden möchte, entgegnet er: "Das ist nichts für Mädchen. Mädchen gehören vor die Kamera." Den ausrangierten Apparat bekommt der ältere Bruder (Matti Schmidt-Schaller). Das klingt sehr nach den Sechzigern, doch im Grunde hat sich gar nicht so viel geändert: Junge Frauen dürfen zwar Regie studieren, aber die Filmaufträge werden mehrheitlich an Männer vergeben; Seegers Werk ist auch ein Beitrag zur Debatte über die Stellung von Frauen im Filmgeschäft. 

Die Umsetzung ist allerdings längst nicht so raffiniert wie der Titel, in den das "S" erst nachträglich eingefügt wird; die Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit sind nur selten spielerisch gelöst. Die Arbeit mit dem Ensemble ist dagegen hervorragend. Gerade die jungen Darstellerinnen sind außerordentlich gut geführt. Gänsehautpotenzial hat auch der Schluss, als Seeger Realität und Fiktion miteinander vermischt und die erwachsene Marie als Regisseurin ihres "Leben-Films" nach Drehschluss ihr junges Alter Ego in die Arme schließt; ein schönes Bild für die Versöhnung einer Frau mit ihrem früheren Ich.