TV:Tipp: "Hartwig Seeler: Ein neues Leben"

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23. Mai, 3sat, 20:15 Uhr
TV:Tipp: "Hartwig Seeler: Ein neues Leben"
Wie schon "Gefährliche Erinnerungen" ist auch "Ein neues Leben" ein Film von Johannes Fabrick (Buch und Regie). Der österreichische Grimme-Preisträger ("Der letzte schöne Tag", 2012) steht wie kein zweiter für Dramen, die ihre Figuren mit existenziellen Herausforderungen konfrontieren. Diese Schicksale schildert er mit größtmöglicher Sensibilität; gespielt ist das stets ganz vorzüglich.

Mit dem Drama "Gefährliche Erinnerung" hat die ARD-Tochter Degeto 2019 eine Figur eingeführt, deren Reihenpotenzial offenkundig war; und das nicht nur, weil Privatdetektive im deutschen TV-Krimi nach wie vor sehr rar sind. Reihentitelheld Hartwig Seeler ist ein ehemaliger Polizist, der nach dem ungeklärten Tod seiner Frau den Dienst quittiert und sich auf die Suche nach Vermissten spezialisiert hat. Das klingt nicht sonderlich aufregend, aber der von Matthias Koeberlin sehr in sich gekehrt verkörperte Ermittler betrieb im Auftaktfilm vor allem Erkundungen in der Seele. Im Grunde war er mehr Therapeut als Detektiv; auch in eigener Sache. 

Zwei Jahre später hat die Zeit die Wunde des Verlusts immer noch nicht geheilt. Einer früheren Kollegin geht es ganz ähnlich: Tascha (Emily Cox) ist als junge Polizistin in die Gewalt eines Verbrechers geraten, der ein Kind als Geisel genommen hatte; mutig hat sie damals sich zum Tausch angeboten. Anschließend war sie dem Mann 36 Stunden ausgeliefert. Was in dieser Zeit vorgefallen ist, hat sie nie erzählt, weil sie nicht als Opfer betrachtet werden wollte.

Neun Jahre später wird Gerald Metzner (Maximilian Brauer) aufgrund guter Führung und einer positiven Sozialprognose vorzeitig entlassen. Tascha bittet Seeler, der ihr Vorgesetzter war und sich entsprechend verantwortlich fühlt, um Hilfe: Sie ist überzeugt, dass Metzner sich an ihr rächen will; schließlich war es ihre Aussage, die ihn hinter Gitter gebracht hat. Da ihr Ex-Chef Experte darin ist, verschwundene Menschen aufzuspüren, müsste das doch auch andersrum funktionieren: Wer wüsste besser als er, wie man untertaucht?

Johannes Fabrick (Buch und Regie) nimmt sich viel Zeit, um die seelischen Konflikte auszuloten; das macht seine Filme so berührend. Dass auch Seeler, äußerlich scheinbar mit sich im Reinen, eine dieser "verlorenen Seelen" ist, zeigen nicht zuletzt die Tagträume von seiner Frau (Dagny Dewath). Auch der zweite Fall des Privatdetektivs (eine Wiederholung aus dem Jahr 2021)  ist wieder mehr Drama als Krimi, selbst wenn die farbentsättigten Rückblenden der Geiselnahme Szenen von höchster Intensität sind.

Tascha hat sich schon immer zu ihrem Chef hingezogen gefühlt, aber damals war er verheiratet. Nun kommen sich die beiden näher, doch dann schickt sie ihn weg; am nächsten Morgen ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Als kurz drauf in einem Wald Metzners Leiche gefunden wird, fragt sich Seeler, was Krimifans längst vermutet haben: Offenbar hat Tascha ihn bloß benutzt, um nach vollzogener Rache von der Bildfläche zu verschwinden. Der Detektiv ahnt jedoch, wo er sie finden kann, und reist nach Gozo. Die maltesische Insel ist Taschas Sehnsuchtssort, was Fabrick die Gelegenheit gibt, den Film ähnlich wie schon "Gefährliche Erinnerungen" um schöne Urlaubsbilder zu ergänzen; allerdings wird die Idylle alsbald erheblich getrübt. Die besondere Musik von Manu Kurz lässt ohnehin schon früh keinen Zweifel daran, dass die Geschichte ans Eingemachte gehen wird. 

"Ein neues Leben" mag nicht die Relevanz früherer Fabrick-Werke wie "Ein langer Abschied" (2006), "Pass gut auf ihn auf!" (2013) oder "Wenn es am schönsten ist" (2014) haben; in diesen Dramen ging es um das Sterben eines Kindes, den Suizid eines geliebten Menschen oder schwere Krebserkrankungen. Trotzdem stecken viele Botschaften in der Handlung. Eine sehr berührende Rolle spielt beispielsweise Monika Lennartz als Taschas geliebte Großmutter, die ihrer Enkelin erklärt, es sei keine Schande, ein Opfer zu sein; und dass Schweigen ohnehin nicht hilft.

Seeler hatte das zuvor ganz ähnlich ausgedrückt: Man muss sich seiner Scham nicht schämen. Für Fabrick selbst ist der facettenreiche Film ein Lehrstück darüber, wie groß der Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart ist: Sie wirke wie eine Brille, durch die man aktuelle Ereignisse möglicherweise verzerrt oder falsch wahrnehme. Seiner Hauptfigur legt er nach dem tragischen Ende die Ermahnung in den Mund, wir sollten vorsichtiger mit unseren Urteilen sein und nachsichtiger miteinander umgehen. Als Psychogramm einer zutiefst verletzten und traumatisierten Frau ist "Ein neues Leben" ohnehin sehenswert.