Diakonie-Jubiläum will Schattenseiten in den Blick nehmen

Diakonie-Präsident Lilie
© epd/Jens Schulze
Die Diakonie feiert in diesem Jahr ihr 175-jähriges Bestehen. Präsident Ulrich Lilie will das Jubiläum mit einem kritischen Blick auf die Vergangenheit angehen.
Präsident Ulrich Lilie
Diakonie-Jubiläum will Schattenseiten in den Blick nehmen
Zum 175. Jubiläum will die Diakonie ihre Geschichte kritisch würdigen. Auf einer Fachtagung nehmen Historiker und Diakoniewissenschaftler Licht- und Schattenseiten der Historie der evangelischen Wohlfahrt in den Blick.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sowie Wissenschaftler haben für einen differenzierten Blick auf die 175-jährige Geschichte der Diakonie plädiert. In den 175 Jahren ihres Bestehens habe die organisierte Diakonie in Deutschland positive Traditionslinien hervorgebracht, aber auch Abwege beschritten, sagte Lilie am Donnerstag bei einer Fachtagung in Bielefeld. Das Jubiläum soll laut Lilie auch die Schattenseiten der Geschichte in den Blick nehmen. Auf der Tagung warben Historiker dafür, den ursprünglichen Freiheitsgedanken diakonischer Arbeit wiederzuentdecken.

Vor 175 Jahren, im September 1848, hatte der Hamburger Pfarrer und Anstaltsleiter des "Rauhen Hauses", Johann Hinrich Wichern, beim ersten evangelischen Kirchentag in Wittenberg die Gründung einer überregionalen protestantischen Hilfsorganisation angeregt. Ziel war es, die Arbeit der zahlreichen christlichen Initiativen und Vereine zu bündeln. Das war der entscheidende Impuls für eine neue, kirchliche "Innere Mission", aus der über die Jahrzehnte der weitverzweigte evangelische Sozialverband entstand, der heute Diakonie heißt. Das 175. Jubiläum der Diakonie soll unter anderem im Herbst mit einem Festakt in Berlin gefeiert werden.

Patriarchalische Strukturen würden kritisch gesehen

Der Historiker Norbert Friedrich in Bielefeld plädierte für einen differenzierten Blick auf die patriarchischen Gründergestalten der Diakonie. Die patriarchalischen Strukturen würden heute oft kritisch gesehen, sagte der Historiker der Düsseldorfer Fliedner-Stiftung. Ohne die prägenden Persönlichkeiten wie Theodor Fliedner und Johann Hinrich Wichern wäre die heutige Diakonie jedoch nicht so groß geworden.

Der Historiker Hans-Walter Schmuhl unterstrich die Ambivalenz der Sozialstaatlichkeit. So werde dadurch die soziale Arbeit weitgehend vom Staat refinanziert, im Gegenzug setze der Staat die fachlichen Standards, sagte der Bielefelder Historiker laut Redetext. Dadurch gingen aber auch freiheitliche Impulse in der Erziehungsarbeit verloren. Der ursprüngliche Arbeitsansatz diakonischer Arbeit, den einzelnen Menschen und seine Potenziale in den Blick zu nehmen, könne aber auch heute noch eine Inspiration sein.

Die Missstände in der Geschichte der Diakonie hält Schmuhl für weitgehend aufgearbeitet. Mit Blick auf die Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten gegen Menschen mit Behinderungen zeige die Forschung Versäumnisse der evangelischen Kirche und der Diakonie, hatte der Historiker vor Beginn der Fachtagung dem Evangelischen Pressedienst (epd) gesagt. Unter dem Titel "Ordnung und Freiheit - Ambivalenzen in der Geschichte der Diakonie" befassen sich bis Freitag in Bielefeld Expertinnen und Experten aus den Bereichen Geschichte, Diakoniewissenschaft und Theologie mit den Licht- und Schattenseiten der Diakonie-Geschichte.

Der Münchner Theologe Reiner Anselm verwies auf die religiösen Wurzeln des modernen Freiheitsbewusstseins. Der Aufruf des Reformators Martin Luther (1483-1546), Buße zu tun, bedeute, die eigenen Vorstellungen und Interessen kritisch zu hinterfragen, sagte Anselm, der an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität München Theologie lehrt. Die besondere Leistungskraft des theologischen Freiheitsbegriffs bestehe darin, an dem Ideal der Freiheit des Einzelnen festzuhalten.