"Hinweise auf Völkermord verdichten sich"

Leiche eines Zivilisten auf der Straße in Butscha
© Vadim Ghirda/AP/dpa
Die Leiche eines Zivilisten liegt auf der Straße im ehemals russisch besetzten Kiewer Vorort Butscha.
Kriegsverbrechen in der Ukraine
"Hinweise auf Völkermord verdichten sich"
Drei geflüchtete Ukrainerinnen in Regensburger Forscher-Team
Wie sammelt man Beweise für einen Völkermord? Drei ukrainische Wissenschaftlerinnen flohen vor einem Jahr aus ihrem Land nach Regensburg. Seitdem beschäftigen sie sich mit Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen des russischen Aggressors.

Aus der Ukraine geflohene Wissenschaftlerinnen dokumentieren und analysieren von Regensburg aus Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land. Ihre Recherche begann im Jahr 2014 - nach der Annexion der Krim durch Russland. Nun arbeiten sie am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg weiter. Institutsdirektor Ulf Brunnbauer über die Ziele ihrer Arbeit und die Chancen für ein Tribunal in Den Haag.

epd: Die eigentliche Dokumentation der Kriegsverbrechen geschieht vor Ort von forensischen Teams. Worin besteht die Aufgabe der drei ukrainischen Wissenschaftlerinnen?

Ulf Brunnbauer: Zwei der Kolleginnen sind Juristinnen, eine ist Politikwissenschaftlerin. Sie bewerten und dokumentieren die gesammelten Informationen aus einer juristischen Perspektive und ordnen sie ein, um dafür zu sorgen, dass die Aussagen der Opfer und Zeugen möglichst frühzeitig erfasst werden.

Das Problem bei zurückliegenden Kriegsverbrecher-Prozessen lag oftmals darin, dass die Zeugen oft erst sehr, sehr viel später nach den eigentlichen Verbrechen befragt wurden. Und wie wir alle wissen, ist Erinnerung etwas, was im Laufe der Zeit immer unpräziser wird. Außerdem geht es ihnen darum, traumatisierte Menschen überhaupt dazu zu bringen, ihre schrecklichen Erlebnisse zu berichten.

Ziel dieser Dokumentationen ist die juristische Bewertung vor einem Gericht. Warum wird das schon jetzt gemacht, während der Krieg noch voll im Gange ist?

Ulf Brunnbauer ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg.

Brunnbauer: Die Kolleginnen arbeiten sehr eng mit ukrainischen Strafverfolgungsbehörden und Juristen zusammen, um zu verhindern, dass hier Informationen verloren gehen - nicht zuletzt, weil die Behörden in der Ukraine auch vor dem Problem stehen, dass sie vermutlich Tausende Kriegsverbrechen dokumentieren müssen. Und das in einer Zeit, wo weiter gekämpft wird.

Außerdem sind viele Opfer und Zeugen vor dem Krieg ins Ausland geflohen. Insofern ist es für die Ermittler in der Ukraine wichtig, dass auch geflüchtete Forschende im Ausland mit ihren Möglichkeiten partizipieren. Nur so kann möglichst viel dokumentiert werden, damit man später vor einem Gericht sattelfeste Beweise hat, um entsprechende Urteile fällen zu können.

Sie sprechen von Tausenden Kriegsverbrechen, welche konnten bislang analysiert werden?

Brunnbauer: Es gibt seitens der russischen Truppen massive Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung, also Kriegsverbrechen, die im Zuge ihrer Kriegsführung verübt wurden und international geächtet sind. Da wäre zum Beispiel die bewusste Zerstörung ziviler Infrastruktur, die Bombardierung von zivilen Wohngebieten, sexuelle Gewalt, die Massaker, die in Butscha und anderswo stattgefunden haben, aber auch die bewusste Zerstörung von ukrainischem Kulturgut - das alles sind Kriegsverbrechen. Ein zweiter Bereich ist, dass Russland womöglich auch gegen die Internationale Völkermord-Präventionskonvention verstößt. Da verdichten sich die Hinweise. Das hieße, dass in der Ukraine womöglich auch Völkermord stattfindet.

Ein Priester betet am 11.08.2022 während einer Zeremonie für nicht identifizierte Zivilisten, die während der russischen Besatzung in Butscha von den russischen Truppen ermordet wurden. Elf nicht identifizierte Leichen, die aus einem Massengrab exhumiert worden waren, wurden in Butscha beigesetzt.

Inwiefern kann man schon jetzt von einem Völkermord sprechen?

Brunnbauer: Die offenkundig systematische Verschleppung von Kindern aus den besetzten Gebieten in der Ukraine nach Russland, wo sie dann zur Adoption freigegeben werden, obwohl es sich nicht um Waisenkinder handelt, das könnte zumindest als Teil eines Genozids gewertet werden. Das ist etwas, was der Kreml selbst zugibt, aber natürlich anders darstellt.

"Dass Kriegsverbrechen stattfinden, das ist unstrittig."

Auch das massenhafte Bombardement von Mariupol, wo man bis heute nicht weiß, wie viele Tote zu beklagen sind. Zusammen mit den Massenvergewaltigungen kann das in Summe tatsächlich darauf hinauslaufen, einen Genozid festzustellen. Die rechtlichen Hürden dafür sind aber sehr hoch, weil die Intention nachgewiesen werden muss. Allerdings macht der Kreml kein Geheimnis daraus, dass er der Ukraine als Staat und Nation das Existenzrecht abspricht. Dass Kriegsverbrechen stattfinden, das ist unstrittig.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Verbrechen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag landen?

Brunnbauer: Die Hoffnung ist groß, dass ein Sondertribunal eingerichtet wird, wie das im Fall des ehemaligen Jugoslawiens war. Allerdings wurde das Tribunal für die Kriegsverbrechen in Jugoslawien vom UN-Sicherheitsrat eingerichtet, wo bekanntlich Russland und auch China ein Vetorecht haben.

Es müsste ein Tribunal geschaffen werden, ohne UN-Sicherheitsrat-Zustimmung, was die Legitimität etwas reduziert, aber zumindest könnte in Den Haag gegen abwesende Angeklagte prozessiert werden. Ich glaube, da ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht so gering, zumal einige Personen, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sein könnten, also Militärs, sich in ukrainischer Gefangenschaft befinden.

Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit. Wie ist es um das Beweismaterial bestellt?

Brunnbauer: Da sind zum einen die akribische forensische Arbeit vor Ort, also die Obduktionen, das Ausheben der Massengräber, die Rekonstruktion der Kriegsereignisse, die vielen Befragungen und Zeugenaussagen. Außerdem entsteht in diesem Krieg viel visuelles Material, wenn Soldaten selbst mit ihrem Handy Aufnahmen machen oder weil teilweise die russischen Militärs ganz offen über das Handy über Verbrechen miteinander kommunizieren, und das sind alles Beweisstücke, die von ukrainischen sowie westlichen Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten gesammelt werden.

Die Schwierigkeit bei diesen Prozessen ist nicht, die Kriegsverbrechen als solche zu dokumentieren, sondern die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Man muss eben nicht nur den Soldaten, der mit seinem Panzer auf ein ziviles Gebäude feuert, sondern den Kommandeur, der das angeordnet hat, identifizieren und anklagen - bis zum Oberkommandierenden, das heißt Wladimir Putin.