TV-Tipp: "Höllgrund"

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1. November, SWR, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Höllgrund"
Eine Schwarzwaldserie! Wer "Höllgrund" in der Hoffnung auf schöne Naturaufnahmen und beschauliche Familiengeschichten einschaltet, wird schon während des Prologs die Flucht ergreifen.

Wer sich indes von diesen ersten Bildern, als ein Junge buchstäblich zur Schlachtbank geführt wird, nicht abschrecken lässt, wird mit acht Folgen belohnt, die es in sich haben. Dabei geht es zuweilen recht makaber und auch mal heftig deftig zu. Trotzdem weckt der Vorgeschmack falsche Erwartungen: "Höllgrund" ist eine äußerst intelligent erzählte, clever konzipierte und mit Liebe zum mitunter allerdings blutigen Detail umgesetzte Serie. Typisch für den Anspruch ist der Scherenschnitt, mit dem der Vorspann beginnt. Das Bild bietet eine Zusammenfassung der komplexen Handlung auf einen Blick; vor jeder Folge wird ein anderer Aspekt hervorgehoben. Das Handlungsmotiv Rache mag auf den ersten Blick nicht sonderlich originell klingen, doch wie Marc O. Seng, Schöpfer der fesselnden Thriller-Serie "Unbroken" (2021, Neo) und seine Koautorin Maike Rasch ihre Erzählung verpackt haben, ist große Drehbuchkunst. 

Die erste Folge startet harmlos: Landarzt Armbruster (Heiner Lauterbach) begrüßt die alte Irmi Freischütz (Michaela Caspar), die ihn wie jeden Morgen auf der Bank vor seiner Praxis erwartet. Aber schon kurz drauf ist die Idylle dahin: Der Arzt hat sich offenbar erhängt, die alte Frau sitzt zwar auf ihrem angestammten Platz, ist jedoch ebenfalls tot, der trinkfreudige Wirt erschießt sich, der demente Pfarrer stürzt von der Orgelempore, der Schlachthofbesitzer und der Chef des örtlichen Polizeipostens entgehen dem Tod nur um Haaresbreite. Die Betroffenen waren allesamt Mitglieder des Kirchenchores. Ein vor gut zwanzig Jahren aufgenommenes Foto zeigt die Damen und Herren in vermeintlicher Eintracht; der Schnappschuss kommt nun einer Todesliste gleich. Die gerahmte Aufnahme steht auch in der Praxis von Armbruster, aber sie ist nicht komplett: Die linke Seite ist abgeknickt. Die junge Frau (Alissa Atanassova), deren Andenken auf diese Weise getilgt werden soll, schwebt wie ein schöner Racheengel durch die knapp 240 Minuten. Für die Todesserie ist jedoch Armbrusters Nachfolger, Fabian Lambert (August Wittgenstein), verantwortlich. Seine Gegenspielerin ist Dorfpolizistin Tanja Hartholz (Lou Strenger). Sie hat profunde Zweifel am Suizid Armbrusters, mit dem sie regelmäßig postume Zwiegespräche führt, und wundert sich auch über die Häufung ominöser Todesfälle. 

Dass sich Tanja in den schmucken Doktor verliebt, wird fortan selbstredend für Komplikationen sorgen und ist ein weiterer Baustein dieses Gesamtkunstwerks: Seng, Rasch sowie das Regieduo Lea Becker und Hanno Olderdissen wechseln immer wieder das Genre. Deshalb ist "Höllgrund" mal Krimi, mal Familiendrama, mal Romanze, inklusive der entsprechenden filmischen Umsetzung. Verblüffend effektvoll ist auch die eigentlich simple Idee, die kurzen Rückblenden in jenes gut zwei Jahrzehnte zurückliegende Jahr, als das unheilvolle Schicksal seinen Lauf nahm, im Format 4 zu 3 zu filmen. Jede der auch dank ihrer Kürze von dreißig Minuten äußerst dichten Episoden beginnt auf diese Weise, erst dann wechselt das Bild ins Format 16 zu 9. Da Folge sechs erzählt, was sich damals zugetragen hat, ist sie komplett in 4 zu 3 gehalten. Für weitere Überraschungen sorgen die Figuren, die allesamt ein zweites Gesicht offenbaren; so entpuppt sich zum Beispiel Moni Freischütz (Ulrike C. Tscharre), die eigentlich ganz nette Gattin von Tanjas Vorgesetztem (Andreas Anke), als veritable Lady Macbeth, während Tanjas Vater, Josef Hartholz (Nicki von Tempelhoff), dem Anschein zum Trotz einer von den Guten ist; selbst wenn in seinem Schlachthof allerlei Schweinereien passieren. 

Zur speziellen Qualität von "Höllgrund" gehört auch die konsequente Reduktion: Das Ensemble ist überschaubar, die Kameraarbeit (Carol Burandt von Kameke, Karl Kürten) ist zurückhaltend und konzentriert sich innerhalb des geschlossenen Dorfkosmos auf die Figuren. Von Hauptdarstellerin Lou Strenger werde es noch eine Menge zu sehen geben, ist August Wittgenstein überzeugt. Tatsächlich ist ihre Rolle ähnlich facettenreich wie seine, wobei ihm das Kunststück gelingt, bei aller Ambivalenz der Figur dennoch Sympathieträger zu bleiben. Der klassische Western-Topos des Rächers, der an den Ort eines grausigen Verbrechens zurückkehrt, spielt dabei natürlich auch eine Rolle, weshalb die ziemlich gewalttätige siebte Folge ausgesprochen bleihaltig ist.

Dritte Hauptdarstellerin ist wie zu erwarten die Landschaft, von der es durchaus auch Ansichtskartenmotive gibt, aber bei den meisten frühwinterlichen Panoramabildern kommt keinerlei Heimeligkeit auf; von einer buchstäblichen Nacht-und-Nebel-Aktion Tanjas, als sie auf eigene Faust ein Grab aushebt, ganz zu schweigen. Den Rest besorgt die maßgeblich von Max Filges geprägte Filmmusik, die ein ähnlich reizvoller Hybrid ist wie die Serie selbst: Der Komponist hat elektronische Klänge mit einem Volksmusikinstrument kombiniert. Vielen Provinzkrimis wird gern eine Nähe zu den Werken der Coen-Brüder nachgesagt; bei "Höllgrund" ist der Vergleich in der Tat angebracht. Der SWR zeigt heute die Folgen fünf bis acht, die gestern ausgestrahlte erste Hälfte der Serie steht in der Mediathek.