Jenseits von Leistungsdruck und Konsumdiktat

Frau sitzt allein auch einer Parkbank
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Das Nichtstun empfiehlt der Philosoph Byung-Chul Han: "Das Leben erhält seinen Glanz erst von der Untätigkeit. Kommt uns die Untätigkeit als Vermögen abhanden, gleichen wir einer Maschine, die nur zu funktionieren hat."
Spiritualität
Jenseits von Leistungsdruck und Konsumdiktat
Unser Leben ist im Übermaß auf Arbeit und Leistung orientiert, so dass wir Untätigkeit als Defizit wahrnehmen. Zu diesem Ergebnis kommt der Philosoph und meistgelesene Gegenwartskritiker Byung-Chul Han in seinem neusten Buch "Vita contemplativa oder von der Untätigkeit".

In seinem neusten Buch "Vita contemplativa oder von der Untätigkeit" kommt Byung-Chul Han zu folgendem Schluss: "Das Leben erhält seinen Glanz erst von der Untätigkeit. Kommt uns die Untätigkeit als Vermögen abhanden, gleichen wir einer Maschine, die nur zu funktionieren hat." So sind es zweckfreie und nutzlose Zeiten und Momente, in denen das Leben in seiner Schönheit aufscheint: "Dieses Zu-nichts, diese Freiheit vom Zweck und Nutzen ist der Wesenskern der Untätigkeit."

Absichtslos, ohne Ziel und Wozu, schafft einen Raum, in dem im stillen Verweilen Leben zum Hören und Lauschen kommt. Ohne Zwang zur Produktion und Kommunikation. Könnte Zufriedenheit nicht im immer Mehr-Tun, sondern im Sichzurücknehmen liegen? Könnte Zufriedenheit nicht im immer Mehr-Tun, sondern im Sichzurücknehmen liegen? Im Alltag suche ich Nischen, in denen ich mich zurücknehme, zur Ruhe komme und einfach da bin: Wenn ich unterwegs bin, Kirchenglocken von Weitem höre, halte ich einen Moment inne, nehme meinen Atem wahr und schließe meine Augen. Ich werde für einige Minuten ganz still. Nichts muss geschehen, nichts gemacht werden. Das einfache Hören der Töne genügt.

Alice Lagaay, Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie in Hamburg, plädiert für eine Übung im Nicht-da-sein. Sie wirft angesichts der Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit die Frage auf: "Was ist aber, wenn dieses Aufblitzen der eigenen Sterblichkeit und der Ansporn, der von diesem Bewusstsein ausgeht, möglichst viel vom Leben ,mitzunehmen‘, a) sich in einem unreflektierten Konsumverhalten ausdrückt und/oder b) mit dem eitlen Wunsch einhergeht, möglichst ,viel von sich selbst‘ hinterlassen zu wollen?"  

Ich brauche die Erinnerungen im Alltag, die mich auf Wesentliches verweisen: Da ist dieser kleine rote Koffer in meiner Wohnung. Viel passt da nicht hinein. Ich sehe ihn, jeden Tag und er erinnert mich: Alles Wichtige passt in einen Koffer. So mein Wunsch. Was würde ich auf meine letzte Lebensstrecke mitnehmen, was möchte ich hinterlassen? Was passt in einen kleinen Koffer? Postkarten, Bilder und Briefe liegen in ihm. Drei Bücher würde ich ebenfalls noch einpacken, die Psalmen wären dabei. Und, eine kleine Vase, für die Schönheit des Lebens. Die tägliche Erinnerung an die Endlichkeit meines Lebens macht mich demütig. Ich bin eingebettet in etwas Größeres. Mein Leben ist endlich: Es kennt das Scheitern, den Neuanfang und das Unvollendete.

Lagaay kommt am Ende ihres Aufsatzes zu dem Schluss: "Im Nichttun, in der Zurücknahme meiner selbst, komme ich nicht nur der Wahrheit der Welt am nächsten, sondern darin liegt – paradoxerweise – die größtmögliche Intersubjektivität. Ich entkomme dadurch zudem der kurzsichtigen ,Tyrannei des Jetzt‘: Durch das Aufgeben der Jetzt-oder-nie-Haltung gewinne ich, in anderen Worten, Zugang zum Ewigen; ich verbinde mich gleichermaßen mit allem, was ist, sowie mit Vergangenem und Zukünftigem, eine Perspektive, aus der die Sorge um jegliche Bucketliste erst recht überflüssig erscheint."  

Im "Aufgeben der Jetzt-oder-nie-Haltung gewinne ich, […] Zugang zum Ewigen", diese Haltung, die Alice Lagaay beschreibt, inspiriert mich und ich denke an die Theologin Dorothee Sölle, die im gedanklichen Gespräch mit dem Mystiker Meister Eckhart den Sinn des Lebens im "ohne Warum" beschreibt: "Was bedeutet dieses ,ohne Warum‘, in dem wir leben sollen und in dem das Leben selber lebt? Es ist die Abwesenheit von allem Zweck, aller Berechnung, allem quid pro quo, allem Etwas für etwas Anderes, aller Herrschaft, die sich das Leben zu Dienste macht. Wo immer wir zerrissen sind zwischen Sein und Handeln, Empfinden und Tun, da leben wir nicht ,sunder warumbe‘, sondern berechnen Aufwand und Erfolg, kalkulieren, Wahrscheinlichkeit und Nutzen oder folgen unbegriffenen Ängsten."  Bei Meister Eckhart klingt die Erläuterung des "sunder warumbe" so: "Wer das Leben befragte tausend Jahre lang: ,Warum lebst du?‘ - könnte es antworten, es spräche nicht anderes als: ,Ich lebe darum, dass ich lebe.‘ Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grund lebt und aus seinem Eigenen quillt; darum lebt es ohne Warum eben darin, dass es (für) euch sich selbst lebt."  

Der Abend am Ende eines Tages ist für mich eine Zeit des "ohne Warum": Vieles habe ich an einem Tag gesehen, gehört; Wege bin ich gegangen. So ist es für mich ein Ritual am Abend, meinen Tag, mit allem, was war, Gott anzuvertrauen. Meine Hände forme ich zu einer Schale, jetzt bin ich wie eine Schale. Ich nehme meinen Atem wahr. Gefühle und Gedanken kommen auf. Keine Plus-Minus-Rechnung. Kein Bewerten und Analysieren des Tages. Ich bin einfach da. Lege alles in Gottes Hand.

Was bedeutet dieses "ohne Warum"? Leben zu erfahren, dass aus sich selbst lebt und einen Sinn in sich trägt. Es gibt Aufgaben und Handlungen, die müssen einfach getan werden, wie der unermüdliche Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Laut und leise! Auf Demos, bei Friedensgebeten und bei Diskussionsveranstaltungen – immer wieder die Vision Frieden und Menschlichkeit erzählen, "ohne Warum" – Immer wieder! Sich einem Menschen zuzuwenden, ohne Warum, ohne die ständige Rechnung von Kosten und Nutzen. Das ständige "Arbeiten an sich selbst" zu unterbrechen und aufzuhören mit dem Zwang, ständig an sich selbst etwas zu verbessern oder alles aus dem Leben holen zu wollen. Ein Blick allein auf berechenbaren Erfolg ist brüchig.

Ein Leben "ohne Warum" hält die Erinnerung wach, dass unser Leben wie unser Atem, der kommt und geht, ganz von alleine, einen unendlichen Wert in sich trägt. So zu leben bedeutet, Momente und Pfade zu suchen, in sie einzutauchen, in denen das Leben aus sich allein heraus lebt und im "ohne Warum" verweilt. Im Gebet sich lauschend und schweigend in Gott versenken, wie Meister Eckhardt schreibt: "Das Aller-beste und Aller-edelste, wozu man in diesem Leben kommen kann, ist, wenn du schweigst und Gott wirken und sprechen lässt."

Das Nachdenken über ein Leben ohne Warum ist auch eine Frage an unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Lebensweise. Das Immer-Mehr an Wachstum und Steigerung erschöpft unser Leben und unsere Erde. Deshalb ist das Nachdenken über ein Leben ohne Warum keine nur individuelle Frage, sondern eine Gesellschaftliche: Wie wollen wir leben? Heute und zukünftig! Dass unser Leben Freiräume des Innehaltens, Verweilens, Staunens und Schweigens braucht, muss als Lebensweise Würdigung erfahren. Denn aus dieser Mitte heraus ist ein Handeln in dieser Welt möglich.

Fast am Ende seines Buchs widmet sich Byung-Chul Han der Religion: "Die heutige Krise der Religion lässt sich nicht einfach darauf zurückführen, dass wir jeden Glauben an Gott verloren haben oder dass wir misstrauisch geworden sind gegenüber bestimmten Glaubenssätzen. Auf der tieferen Ebene verweist diese Krise darauf, dass wir zunehmend das kontemplative Vermögen verlieren."  Liegt das Zukünftige im Lauschen und Verweilen, einer Lebensweise, die Aktion und Kontemplation vereint?