TV-Tipp: "Alice Guy, die vergessene Filmpionierin"

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5. Januar, Arte, 22.20 Uhr
TV-Tipp: "Alice Guy, die vergessene Filmpionierin"
So ähnlich müssen sich Forscher auf den Spuren einer Legende fühlen: Eines Tages sah die amerikanische Regisseurin und Produzentin Pamela B. Green einen Film über Pionierinnen des Kinos, darunter auch Alice Guy. Green wunderte sich, dass ihr der Name überhaupt nichts sagte.

Sie hörte sich bei Kolleginnen und Kollegen um und erhielt überall die gleiche Antwort: nie gehört. Aber wie konnte es sein, dass eine offenbar derart wichtige Figur aus der Frühzeit des Films völlig unbekannt ist? Also begann sie zu recherchieren. Alsbald deutete sich an, dass die Französin nicht bloß Pionierin, sondern eine prägende Persönlichkeit jener Jahre war, als die Bilder laufen lernten. 

Während sich die meisten Männer nach der Erfindung des Kinos im Jahr 1895 zunächst damit begnügten, Alltagssituationen zu filmen, erzählte die damals 22-jährige Pariserin fiktionale Geschichten. Sie experimentierte mit Farbe und Ton, schuf auf diese Weise die ersten Musicals und wurde zur treibenden kreativen Kraft hinter Gaumont, dem ältesten noch existierenden Produktionsunternehmen der Welt. In den folgenden 25 Jahren war Alice Guy in Frankreich und den USA als Regisseurin, Autorin und Produzentin für mindestens siebenhundert Filme verantwortlich. In der von Männern verfassten Filmgeschichte ist sie jedoch unterschlagen worden. Einige frühen Werke wurden kurzerhand ihrem Kameramann zugeschrieben; offenbar konnten sich die Filmhistoriker späterer Jahre nicht vorstellen, dass eine Frau auch in technischer Hinsicht so viel beschlagener war als ihre männlichen Zeitgenossen.

Natürlich ist es aller Ehren wert, dass Green die Leistung Alices Guys der Vergessenheit entreißt, aber diese Tatsache allein macht ihr vielfach ausgezeichnetes Werk noch nicht zu einem besonderen Film; ein braves Porträt, wie es von nahezu jeder Größe der Filmgeschichte existiert, hätte außerhalb der Filmhochschulen vermutlich kaum jemanden interessiert. "Be Natural" ist jedoch ein visuelles Ereignis: Green erzählt nicht nur die Lebensgeschichte der Filmpionierin, sie dokumentiert auch die eigene Recherche, die sie kreuz und quer durch Amerika und natürlich auch nach Europa geführt hat. Der Film ist eine Collage aus uralten verschollen geglaubten Fundstücken und animierten Grafiken, ergänzt um eine Vielzahl oftmals nur winziger Gesprächsausschnitte; der Abspann führt weit über hundert Interviewpartner auf, darunter Kinogrößen wie Gale Anne Hurd, Geena Davis, Julie Delpy, Agnès Varda, Peter Bogdanovich und Ben Kingsley, außerdem eine Vielzahl von Expertinnen und Experten. Der Film wurde maßgeblich von Robert Redford unterstützt, als Erzählerin konnte Green Jodie Foster gewinnen. 

Die Idee, das Porträt um die Beschreibung der achtjährigen Odyssee durch die Filmgeschichte zu ergänzen, erweist sich als brillant, zumal "Be Natural" ansonsten nur aus Schwarzweißaufnahmen bestanden hätte. Der Titel (sinngemäß: "Sei du selbst") bezieht sich auf ein Motto, das Alice Guy-Blaché, wie sie nach ihrer Hochzeit mit dem Kameramann Herbert Blaché hieß, in großen Lettern an ihrem Studio in New Jersey angebracht hatte; es sollte die Mitwirkenden ihrer Filme daran erinnern, sich vor der Kamera möglichst natürlich zu verhalten. Schon der Prolog, eine Zeitreise zu den Anfängen des Kinos, ist ein Erlebnis; es ist praktisch unmöglich, all’ die Eindrücke bewusst wahrzunehmen. Dank der ebenso einfalls- wie abwechslungsreichen Gestaltung des Films findet Green auch für banale Recherchemomente wie ein Telefonat mit den Enkelinnen eines Weggefährten Guys ansprechende Bilder. Selbst der Vorgang, einer nicht mehr abspielbaren Videokassette im Labor doch noch bewegte Bilder abzutrotzen, wird zu einem spannenden Prozess.

Die 1968 verstorbene Guy hat schon vor über hundert Jahren Filme über Antisemitismus, Feminismus und die Arbeiterbewegung gemacht. Sie hat als Produzentin der ersten Amerikanerin ermöglicht, Regie zu führen; und sie hat als erste einen Film nur mit schwarzen Schauspielern gedreht, weil sich die Weißen weigerten, gemeinsam mit "Farbigen" aufzutreten. Angesichts der Forderung, in der Filmbranche endlich Gleichberechtigung walten zu lassen, kommt Greens Hommage an Guy, als berufstätige Mutter auch in dieser Hinsicht Pionierin, gerade recht. Dass sie in Vergessenheit geraten ist, lag indes nicht nur an den Filmhistorikern: Als ihr Mann die gemeinsame Produktionsfirma an der Ostküste runtergewirtschaftet hatte und sich Richtung Hollywood aus dem Staub machte, kehrte sie schließlich nach Frankreich zurück, wo im mittlerweile von Männern dominierten Filmgeschäft kein Platz mehr für sie war.