TV-Tipp: "Mord in der Familie – Der Zauberwürfel"

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27. Dezember, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Mord in der Familie – Der Zauberwürfel"
Gute Krimis sind wie ein raffiniert konzipiertes Labyrinth: mit Irr- und Umwegen, Sackgassen, Finten und bösen Überraschungen. Thriller beginnen gern in Sichtweite des Ziels, konfrontieren Held oder Heldin jedoch mit einem scheinbar unüberwindlichen Hindernis – und blenden dann zurück. Die Auftaktdramaturgie von "Mord in der Familie" funktioniert so ähnlich und doch ganz anders: Der Held stirbt, am Neujahrsmorgen.

Anstelle eines Zwischentitels ("Drei Wochen vorher") folgt der Blick auf einen Abreißkalender: Nikolaus. Nun folgen knapp 180 ungemein geschickt verschachtelte Handlungsminuten, deren eigentlicher Reiz jedoch in ihrer Vielschichtigkeit besteht: Keine der zentralen Figuren ist ohne Schuld, weshalb es auch keine Guten und Bösen gibt.

Was als Krimi beginnt, ist in Wirklichkeit eine Familientragödie: Vor einigen Wochen ist ein Neubau des Kölner Bauunternehmens Becker & Sohn eingestürzt. Genau genommen hat Henry Becker (Heiner Lauterbach) zwei Söhne, und weil das Unglück den Ruf der Firma zu ruinieren droht, muss einer von beiden seinen Kopf hinhalten: Eric (Lucas Gregorowicz), der als Bauingenieur für die Statik zuständig war, oder Thomas (Matthias Koeberlin), der die Materialbeschaffung verantwortet. Becker bittet Eric, die Schuld auf sich zu nehmen; zum Dank würde er ihn zum Geschäftsführer machen. Diesen Posten stellt er allerdings auch Thomas in Aussicht. Wenn es um das Wohl der Firma geht, kennt der Alte keine Verwandten.

Henry Becker ist also auf den ersten Blick ein Mann, dem das Drehbuch der schwedischen Autorin Linda Ung diverse Negativklischees eines Patriarchen anhängt: gerissen, skrupellos, überheblich. Hinzu kommt, dass Heiner Lauterbach mit Erfolg alles tut, um versehentliche Sympathien im Keim zu ersticken. Und doch bekommt dieses Bild Risse, denn der Witwer hadert mit einer Rolle, die er sich nicht ausgesucht hat; Familie, stellt er irgendwann selbstmitleidlos fest, "ist eine Wunde, die niemals heilt." Ausgerechnet ihm gönnt der Film einen versöhnlichen Schluss. Wie die Geschichte für Thomas endet, ist bekannt: Er wird gleich zu Beginn erschossen. Eric ist zwar ein tragischer Held, aber möglicherweise auch der Mörder seines Bruders, dem er schon immer das Leben auf der Sonnenseite geneidet hat, denn er selbst ist nur das Ergebnis eines Seitensprungs. 

Während sich die ersten neunzig Minuten auf das Männertrio konzentrieren und sich mehr und mehr zeigt, dass es in dieser vermeintlichen "Kain und Abel"-Geschichte gar keinen Abel gibt, wird der zweite Teil von einer ganz anderen Konkurrenz dominiert. Bei den Anonymen Alkoholikern lernt Thomas eine Frau (Petra Schmidt-Schaller) kennen, die ihm auf Anhieb imponiert, weil sie wie eine Löwin für ihr Kind kämpft und in vielerlei Hinsicht das Gegenteil seiner kühlen Gattin Marianne (Katharina Lorenz) ist. Karoline hat ihrem gewalttätigen Mann, der das alleinige Sorgerecht besitzt, den gemeinsamen Sohn entzogen. Nun lebt sie in ständiger Sorge, er könne sie finden und ihr den kleinen Jimmy wegnehmen. Marianne bleibt natürlich nicht verborgen, dass ihr der Gatte abhanden zu kommen droht; Eric ist ohnehin überzeugt, dass seine Schwägerin ihren Mann auf dem Gewissen hat. 

Eine dritte Handlungsebene gilt der Polizeiarbeit. Die Besetzung scheint zu signalisieren, dass dieser Teil der Geschichte weniger wichtig ist, aber das täuscht. Sabine Winterfeldt ist zwar in der Tat kaum bekannt, aber das könnte sich nach diesem Film ändern, zumal der leitenden Ermittlerin Falck und ihrem Mitarbeiter Krämer (Wolf Danny Homann) die Aufgabe zukommt, die vielen Bruchstücke zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufügen. Gerade Winterfeldt beeindruckt durch eine beiläufige Präsenz; ihre sanfte Stimme bildet einen reizvollen Kontrast zum resoluten Auftreten der Hauptkommissarin. 

Und dann ist da noch Jörg Kröschel. Eric hantiert zwar gern mit einem jener einst vom ungarischen Architekten Ernő Rubik erfundenen Zauberwürfel, dem wiederum der Entwurf des eingestürzten Gebäude nachempfunden ist, aber der Titelzusatz gilt vor allem dem erzählerischen Konstrukt, denn das Drehbuch funktioniert ganz ähnlich wie das Drehpuzzle: Die Faszination des Films resultiert nicht zuletzt aus dem permanenten Wechsel von Erzählperspektiven und Zeitebenen. So etwas kann auch zu einem heillosen Durcheinander führen, aber Kröschel hat beim Schnitt offenkundig nie den Überblick verloren. Er arbeitet seit vielen Jahren regelmäßig mit Michael Schneider zusammen, unter anderem auch sechsmal bei "Die Toten vom Bodensee". Unter dem Regisseur hat die ZDF-Krimireihe zwischenzeitlich allerdings deutlich an Qualität eingebüßt. Umso eindrucksvoller ist seine jüngste Arbeit, zumal die Leistungen des Ensembles ausnahmslos vorzüglich sind. Den kleinen Jacob Speidel hat er derart gut geführt, dass Jimmy sogar ein Mord zuzutrauen ist. Sehr markant sind auch die Auftritte von Robert Finster, mit dem der Regisseur bereits bei einem der letzten Bodenseekrimis ("Der Wegspuk") zusammengearbeitet hat: Karolines Ex-Mann ist ein Unhold, aber Finster lässt ihn zwischenzeitlich richtig nett wirken. Den zweiten Teil zeigt das ZDF morgen (28. Dezember).