11 Tipps, wie Gottesdienste inklusiver werden

Inklusiver Gottesdienst
© epd-bild/Andrea Enderlein
Inklusiver Gottesdienst in der Emmaus-Gemeinde Mainz. Knapp acht Millionen Menschen mit Behinderung leben in Deutschland, viele von ihnen sind Mitglied einer Kirche. Doch in den Gemeinden vor Ort stoßen sie häufig noch auf Hürden.
Kirche für alle
11 Tipps, wie Gottesdienste inklusiver werden
Ich wage eine Behauptung: Die meisten Gottesdienste, die in unseren Kirchen gefeiert werden, sind nicht inklusiv. So groß der Schatz der Gottesdiensttraditionen auch ist, so exklusiv sind auch viele der Rituale und liturgischen Elemente, die dazu gehören. Nun könnte man sagen: Macht ja nix, so lange es für diejenigen passt, die am Sonntag kommen. Eine Kirche, die aber für alle da sein will und sich zudem nicht mehr leisten kann, einfach auf die zu warten, die sowieso kommen, braucht Veränderung. Darum hier 11 Tipps, wie der Gottesdienst auch in Ihrer Gemeinde inklusiver wird.

1. Die Einstellung überprüfen

Zuerst eine Klarstellung: Inklusion ist viel mehr als die Einbindung von Menschen mit Behinderung. Inklusive Gottesdienste zu feiern bedeutet, Gottesdienste so zu planen und zu feiern, dass möglichst alle Menschen mitfeiern können und dabei möglichst wenig Barrieren überwinden müssen. Barrieren sind nicht nur Treppenstufen, sondern auch nicht-verständliche Sprache, schlechte Lichtverhältnisse oder eine exklusive Atmosphäre, in der sich Neulinge im Gottesdienst nicht willkommen fühlen – und noch vieles mehr.

Eine queere und neurodivergent Christin sagte mir, dass inklusive Gottesdienste nicht als netter Bonus oder als "nice-to-have" angesehen werden dürften, wenn es gerade mal reinpasst, sondern ureigenes Anliegen sein müssen, dass es funktioniert. Vorbild sei dabei Jesus, der eben nicht mit den Wohlsituierten abhing und nur als Bonus des guten Willens auch mal ein Mensch vom Rand der Gesellschaft hinzubat. Jesus Ansprache richtete sich von Anfang an und zentral an diejenigen, die sonst keinen Platz haben. Darum: Überprüfen Sie als erstes, ob Sie dazu bereit sind, sich und den Gottesdienst grundsätzlich zu verändern und verändern zu lassen. Ich glaube, es lohnt sich.

2. Menschen sichtbar machen und beteiligen

Fangen wir mit der Vorbereitung eines Gottesdienstes an. Umso mehr Menschen sich daran beteiligen, umso vielfältiger wird auch der Gottesdienst. Sprechen Sie Leute an, die sonst vielleicht nicht beteiligt waren. Gestalten Sie Gottesdienste zu bestimmten Themen mit Menschen, die Expert:innen sind. Ein Gottesdienst, der von unterschiedlichen Menschen gestaltet wird, spricht auch unterschiedliche Menschen an und ermutigt diejenigen, die sich vielleicht bisher nicht getraut haben, selbst aktiv zu werden. Also: Beteiligen Sie nicht nur den Pfarrerin, Kirchenvorstand und Organist am Gottesdienst, sondern junge Menschen, queere Menschen, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderung – Menschen, die wir sonst weniger in Gottesdiensten als Handelnde sehen.

3. Zum Gottesdienst so einladen, dass Leute was davon mitbekommen

Dass Gottesdienste sonntags um 10 Uhr stattfinden und alle willkommen sind, ist für die Insider selbstverständlich. Für alle anderen aber ist das nicht unbedingt so klar. Vielerorts scheint es so, als gingen Kirchengemeinden wie selbstverständlich davon aus, dass alle wüssten, wann der Gottesdienst ist. Sie weißen auf einer Unterseite der Gemeindehomepage und im Ortsblättle darauf hin. Aber: es werden schon lange nicht mehr alle Menschen von diesen Medien erreicht. Bewerben Sie ihre Gottesdienste so, dass es mögliche Interessierte auch mitbekommen. Überprüfen Sie, wie gut die Gottesdienstzeit googlebar ist, wie schnell man auf der Gemeinde-Homepage auf die Gottesdienstzeit stößt. Und laden Sie ein: Schreiben Sie, was für Unterstützungsmöglichkeiten es im Gottesdienst gibt (siehe Punkt 4) und, dass es Ihnen ein Anliegen ist, allen die Teilnahme zu ermöglichen. Seien Sie erreichbar! Und warum nicht auch mal ab und zu mit Plakaten außerhalb des Schaukastens für die Gottesdienste werben?

4. Dafür sorgen, dass Leute kommen können

Schon die äußeren Bedingungen vieler Kirchen und Gottesdienste sind oftmals so, dass sie einen gewissen Teil der Menschen ausschließt. Manches ist gar nicht so einfach zu ändern, manches mit wenig Aufwand. Mit nicht allzu großem Aufwand lässt sich zum Beispiel ein Fahrdienst einrichten, der Menschen, die nicht so gut zu Fuß sind, zur Kirche bringt. Vielerorts vorhanden und gut nachrüstbar sind Induktionsschleifen, die Hörgeräteträger:innen beim Verstehen große Dienste leisten. Zu prüfen ist – und oft gibt es dafür auch Fördermittel: ist der Gottesdienstraum (und auch der Altarraum beim Abendmahl!) auch für gehbehinderte Menschen gut zu erreichen? Gibt es Plätze in der Kirche für Rollstühle und Kinderwagen? Ist der Gottesdienstraum so gut ausgeleuchtet, dass auch Menschen mit Sehschwäche im Gesangbuch lesen können? Gibt es Großdrucke der Gesangbücher oder ist der Beamer mit den Liedtexten gut einsehbar? Gibt es einen Satz des Gesangbuches auch in Brailleschrift? Gibt es die Möglichkeit eine:n Gebärdendolmetscher:in zu organisieren?

Aber auch ganz einfache Dinge sind hier zu bedenken: Ist der Gottesdienst kurz genug, dass auch Menschen mit ADHS gut folgen können? Ist die Gottesdienstzeit spät genug, dass Familien oder Menschen mit Unterstützungsbedarf daran teilnehmen können. Das ist eine ganz schön lange Liste an Dingen, die man beachten kann und vielleicht ist nicht alles sofort umsetzbar. Aber auch hier ist wichtig: Überprüfen Sie immer wieder, welche Barrieren abgeschafft werden können.

Ist der Gottesdienstraum auch für gehbehinderte Menschen gut zu erreichen? Gibt es Plätze in der Kirche für Rollstühle und Kinderwagen?

5. (Auch) Orte wählen, die zugänglich und nicht Kirche sind

Was im vorherigen Punkt nicht genannt wurde, aber für manche Menschen schon eine grundsätzliche Barriere darstellt, ist der Kirchenraum an sich. Schon vor der Coronapandemie, aber gerade auch durch die vielen Gottesdiensten unter freiem Himmel, hat sich immer wieder gezeigt, dass andere Orte auch zugänglicher für andere Menschen sind. Darum: Feiern Sie bewusst auch mal Gottesdienste an anderen Orten: Auf der Baustelle des Neubaugebiets, in der Backstube, auf der Brücke, im Weinberg oder im Schrebergarten. Gottesdienste außerhalb der Kirche ermöglichen es anderen Menschen zu kommen.

6. Sprache wählen, die verständlich und inklusiv ist

Neben dem Kirchengebäude ist die Sprache sicherlich auch eine große Hürde für viele, die Gottesdienste besuchen. Schon die Bibeltexte in Lutherübersetzungen stellen selbst in der 2017er-Version viele vor Herausforderungen. Die Basisbibel wählt hier zum Beispiel eine einfachere, aber nicht weniger gottesdiensttaugliche Sprache. Lassen Sie Predigten und Liturgien mal von Menschen lesen, die nicht zur Kirche gehen und Wörter anstreichen, die sie niemals verwenden würden. Und: Überlegen Sie, wie Sie die Menschen ansprechen. Wer immer nur von Gottesdienstbesuchern spricht, schließt damit viele Menschen aus, die sich von der maskulinen Form nicht angesprochen fühlen. Genau das gleiche gilt für die Gottesbilder, die in Predigt und Gebeten verwendet werden. Gott ist mehr als nur "Herr", "Erlöser" und "Vater". Werden Sie kreativ: man darf von Gott auch weiblich oder nicht-geschlechtlich sprechen: lebendiges Feuer, liebende Mutter, lebendigmachende Kraft. Die Bibel bietet hier einiges an Inspiration.

7. Ablauf und Liturgie verständlich machen

Wenn ich in anderen Landeskirchen Gottesdiensten feiere, kommt es fast immer vor, dass ich an falschen Stelen aufstehen will oder sitzen bleibe, beziehungsweise gemeinsame Texte nicht mitsprechen kann. Liturgien – so viel Geborgenheit und Sicherheit sie für die Insider auch geben mögen – sind exkludierend. Und hier gibt es relativ einfache Mittel, wie der Gottesdienst offener für alle gestaltet werden kann: Wenn es eine regelmäßig verwendete Liturgie gibt, kann diese vorne im Gesangbuch als kleines Heft eingelegt werden und zu Beginn darauf verwiesen werden. Der:die Liturg:in kann im Handeln darauf achten, Aufstehen und Hinsetzen gut anzuzeigen und Sprechgesänge und -stücke anzusagen. Oder: Warum beim Psalmgebet nicht einen einfachen Kehrvers ausprobieren, anstatt immer im Wechsel zu lesen. Das Netzwerk Kirche Inklusiv zum Beispiel regt an, die Gemeinde als Antwort zwischen den Psalmversen ein schlichtes "Gott, ich lobe dich" sprechen zu lassen.

8. Nicht nur Land der Dichter und Denker – vielfältige Zugänge wählen

Die evangelische Tradition ist unglaublich stolz auf die Predigt. Und vielen Menschen ist die Auslegung und Sinndeutung durch den Predigenden im Gottesdienst nach wie vor wichtig. Ausschließend ist es, wenn der rationale Zugang zum Glauben der einzige im Gottesdienst bleibt, und die emotionale Ansprache maximal der Musik überlassen wird. Sein Sie mutig und feiern Sie Gottesdienste, die mehrere Zugänge anbieten. Binden Sie alle Sinne in den Gottesdienst ein: Lassen Sie die Menschen die Liebe und Zuwendung Gottes fühlen, riechen, schmecken und sehen. Binden Sie die Gemeinde in die Predigt ein – in dem Rückfragen zur Predigt zugelassen werden oder in der Predigt Fragen an die Gemeinde weitergegeben werden. Und: Scheuen Sie sich nicht, auch Emotionen anzusprechen, auch wenn das einiges an Fingerspitzengefühl erfordert. Überfordern Sie Menschen nicht mit traumatisierenden Emotionen, geben Sie nicht das Gefühl, manipuliert zu werden. Geben Sie Gefühlen einen geschützten Raum im Gottesdienst!

9. Abendmahl inklusiv feiern

Wie schon die Liturgie bietet das Abendmahl eine besonders große Teilnahmehürde. Die Angst in exponierter Stellung etwas falsch zu machen ist besonders groß, vor allem wenn die Abläufe weniger bekannt sind. Auch hier kann ein gut ausformulierter Ablauf, der am Sitzplatz liegt schon helfen. Wichtig ist aber auch (gerade für alle, die nicht so gut sehen können), dass hier die:der Liturg:in gut durchs Abendmahl führt und sich nicht davor scheut, am Anfang auch etwas zu erklären. Im Voraus sollte schon überlegt werden, welche Barrieren die ortsübliche Abendmahlspraxis bietet. Bieten Sie vor und während dem Gottesdienst auch Unterstützung an und informieren Sie sich, welche Unterstützung benötigt werden könnte. Statistiken zeigen, dass Menschen mit Seh- und Hörbehinderung besonders oft dem Abendmahl fernbleiben. Wo die Abläufe gut kommuniziert sind und Menschen auf Unterstützung zählen können, ist die Hürde zum Abendmahl zu gehen sicherlich geringer. Schließlich gibt es eine recht einfach zu beseitigende Hürde: Feiern Sie Abendmahl ausschließlich alkoholfrei. Das vereinfacht die Abläufe und lässt Menschen mit überwundener Alkoholsucht befreit am Gemeinschaftsmahl teilnehmen.

10. Gemeinschaft anbieten

Für viele ist der Gottesdienst an sich schon ein Gemeinschaftserlebnis. Gerade wenn man die Gottesdienstgemeinde aber noch nicht gut kennt, stellt sich das Gefühl schwieriger ein. Um den Gottesdienst auch zu einem Ort der zwischenmenschlichen Beziehung werden zu lassen, ist darum das Kirchcafé oder ein gemeinsames Mittagessen eine gute Ergänzung. Laden Sie offen zum Zusammenkommen nach dem Gottesdienst ein – das ermöglicht Menschen, die nicht sofort von sich aus auf Menschen zugehen können oder wollen einen Anknüpfungspunkt. Achten Sie auch darauf, dass beim Zusammenkommen nach dem Gottesdienst Menschen aus der Gemeinde bereit dafür sind, auf andere zuzugehen und behutsam Neugekommene anzusprechen. Wie unangenehm ist es, sich zum Kirchcafé zu trauen und dann alleine zwischen sich angeregt unterhaltenden Menschen zu stehen.

11. Ermöglichen Sie es, auf Distanz mitzufeiern

Was früher in vielen Gemeinden gängige Praxis war, erlebte in der Coronazeit ein Revival: der Kassettendienst. Heute ist es meistens ein anderer Tonträger oder das Internet, aber das Prinzip ist das Gleiche. Ermöglichen Sie es Menschen, die nicht am Gottesdienst teilnehmen können, den Gottesdienst später anzuhören. Das einfachste ist eine schlichte Tonaufnahmen vom Gottesdienst zu machen und auf der Gemeindehomepage zur Verfügung zu stellen und weniger internetaffinen Menschen auf kompakten Tonträgern nach Hause zu bringen. Ambitioniertere Gemeinden machen Videoaufnahmen oder stellen sogar ein Livestream auf die Beine. Egal wie – das Gefühl aus der Distanz im Gottesdienst der eigenen Gemeinde dabei zu sein, ist für viele ein großer Segen. Und für andere ist es eine gute Möglichkeit im geschützten Raum den Gottesdienst anzuschauen oder -hören, bevor man sich selbst in Präsenz in den Gottesdienst wagt.

Online-Abendmahl in der Corona-Pandemie.

Zum Schluss: Inklusion scheint manchmal eine nicht zu bewältigende große Aufgabe. Zu viele Barrieren scheint es zu geben. Wo soll man da überhaupt anfangen? Ich würde sagen: Wichtig ist es überhaupt anzufangen, weil Inklusion ohnehin ein Prozess ist, der kein Ende hat. Jede Hürde, die beseitigt wurde ist ein Erfolg. Und jeder Mensch, dem dadurch der Gottesdienstbesuch ermöglicht wird, ein Gewinn.

Wer sich weiterführend mit dem Thema beschäftigen möchte, dem sei die Orientierungshilfe der EKD  "Es ist normal, verschieden zu sein"  und die Arbeitshilfe zu inklusiven Gottesdiensten "Gottesdienst für alle" vom Netzwerk Kirche Inklusiv ans Herz gelegt.