TV-Tipp: "Im Netz der Camorra"

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6. September, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Im Netz der Camorra"
Wenn tot geglaubte Dämonen der Vergangenheit aus ihren Gräbern steigen, stürzt die Fassade der Gegenwart in sich zusammen wie ein Kartenhaus: Dieses beliebte Thrillermuster bildet auch den Kern des ZDF-Zweiteilers "Im Netz der Camorra".

Der Reiz der Geschichte liegt im Wandel des Protagonisten. Clever führt das Drehbuch seine Hauptfigur auf ihrem Zenit ein: Matteo DeCanin (Tobias Moretti), Südtiroler Winzer des Jahres, ist erfolgreich und respektiert, außerdem ein zwar strenger, aber liebevoller Vater und ein perfekter Ehemann. Umso tiefer ist der gähnende Abgrund, der sich eines Tages aus heiterem Himmel auftut, als ein früherer Weggefährte auf dem Weingut auftaucht.

Viele zweiteilige Fernsehfilme haben zuviel Handlung für neunzig, aber zu wenig für 180 Minuten, weshalb sie oft eine halbe Stunde zu lang sind. Andreas Prochaska hingegen, ohnehin ein Meister seines Fachs, nimmt sich zwar Zeit, spielt jedoch nicht auf Zeit. Außerdem beeindruckt der Thriller durch vorzügliches Handwerk sowie eine klare Ausrichtung: Im ersten Teil lauert die Gefahr gewissermaßen hinter den Bildern, im zweiten ist die Bedrohung offenkundig; im Grunde beginnt mit dem Auftakt der zweiten neunzig Minuten bereits das Finale. Das ist zwar clever, aber noch keine Kunst. Die liegt vor allem in der vorzüglichen Bildgestaltung (Thomas W. Kiennast): Die sehr bewegliche Kamera ist den Figuren stets dicht auf den Fersen. In diesen langen und jeweils ungeschnittenen Fahrten gerade zu Beginn des Films, wenn DeCanin durch seinen Betrieb wandert und für jeden ein freundliches Wort hat, passiert gar nicht viel; trotzdem sind diese Momente fesselnd, weil die nicht minder gute Musik (Stefan Bernheimer) ständig dafür sorgt, dass ein akustischer Schleier des potenziellen Grauens über der vermeintlichen Idylle liegt. Lichttechnisch ist eine derartige Vorgehensweise natürlich eine Herausforderung, weshalb viele Szenen im Zwielicht spielen und manchmal auch sehr dunkel sind, was wiederum eine treffende optische Analogie zu den Schatten der Vergangenheit ist. Tatsächlich taucht DeCanins Nemesis wie aus dem Nichts im Gegenlicht auf. Prochaska und Kiennast inszenieren diesen Moment wie eine Western-Einstellung. Dazu passt auch der Schluss, als sich Matteos Familie in einer Hütte verschanzt, um sich in einem Kampf auf Leben und Tod ihrer mörderischen Feinde zu erwehren.

Prochaska, Regisseur der herausragenden ZDF/ORF-Reihe "Spuren des Bösen" mit Heino Ferch, ist für seinen medizinischen Thriller "Das Wunder von Kärnten" (2011) mit dem Bayerischen Fernsehpreis und dem International Emmy Award geehrt worden, sein Alpenwestern "Das finstere Tal" (2014) war beim Deutschen Filmpreis gleich achtmal erfolgreich; bei den preisgekrönten Werken war ebenfalls Kiennast sein Kameramann. Das Drehbuch zu "Im Netz der Camorra" hat Ben von Rönne geschrieben; der Autor war unter dem Namen Ben Braeunlich an einigen vorzüglichen "Tatort"-Episoden beteiligt (zuletzt "Die Ferien des Monsieur Murot" mit Ulrich Tukur in einer Doppelrolle). Der Film wirft er im ersten Teil vor allem Fragen auf: Was hat sich Matteo in seinem früheren Leben zuschulden kommen lassen? Wer ist der düstere Neapolitaner (Fabrizio Romagnoli), der ihm nachstellt? Und was hat die junge schwarze Frau mit der Sache zu tun, die zu Beginn auf der Flucht in einem Weinberg niedergeschossen wird? Im zweiten Teil resultiert die Spannung in erster Linie aus der schlichten Dualität von Bedrohung und Gegenwehr: Wird es der Winzerfamilie gelingen, heil aus der Sache rauszukommen?

Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung der zentralen Rolle: Dass sich Protagonisten die Sympathie des Publikums erst erarbeiten müssen, ist nicht ungewöhnlich. Matteo DeCanin wird jedoch als Ehrenmann eingeführt, der allerdings scheinbar kaltblütig einen Unschuldigen ermordet. Damit die Hauptfigur nicht komplett demontiert wird, rückt im zweiten Teil Stefania DeCanin (Ursina Lardi) stärker in den Mittelpunkt: Die Gattin muss zwar feststellen, dass der Mann an ihrer Seite plötzlich wie ein Fremder wirkt, aber das ändert nichts an ihren Gefühlen für ihn; und diese Haltung hat natürlich Einfluss darauf, wie das Publikum den nun zum Antihelden gewandelten Matteo wahrnimmt. Auch Tochter Laura (Antonia Moretti stand erstmals zusammen mit ihrem Vater vor der Kamera) spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle.

Die wichtigste Figur neben Matteo ist jedoch der von Harald Windisch als melancholischer Einzelgänger verkörperte Polizist Erlacher. Während seine Chefin (Melika Foroutan) die angeschossene junge Frau (Precious Mariam Sanusi) aus dem Weinberg umgehend Richtung Abschiebehaft loswerden möchte, verbeißt sich Erlacher in den Fall, zumal er in ihren Sachen das gefälschte Etikett eines mehrere tausend Euro teuren Weines gefunden hat. Er bewahrt sie vor der Abschiebung und versteckt sie bei sich zuhause, was nun auch ihn in größte Gefahr bringt. Für Matteo gilt das ohnehin: Wenn er nicht mit den Mafiosi kooperiert, werden sie Stefania und Laura töten. Die Sorgfalt des visuellen Konzepts zeigt sich nicht nur beim Licht – der Lagerraum für die Weinfässer, Matteos Refugium, ist regelrecht heimelig –, sondern auch in der Ausstattung: Erlachers enge Junggesellenbleibe erinnert mit ihren dunklen Brauntönen an eine Höhle. Den zweiten Teil zeigt das ZDF morgen. In der Mediathek steht "Im Netz der Camorra" als vierteilige Miniserie.