TV-Tipp: "Karl Marx - Der deutsche Prophet"

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TV-Tipp: "Karl Marx - Der deutsche Prophet"
23. März, Arte, 20.15 Uhr
Das Drama über Karl Marx ist zwar im Auftrag der ZDF-Hauptredaktion Geschichte und Wissenschaft entstanden, und selbstredend spielt das politische Denken des Gesellschaftstheoretikers eine große Rolle, doch der erzählerische Ansatz ist ein anderer.

Auf der Suche nach einer Verbindung zwischen dem Leben von Marx im 19. Jahrhundert und dem heutigen TV-Publikum hat der Autor und ZDF-Redakteur Peter Hartl eine Schnittmenge gefunden, an die jeder Zuschauer anknüpfen kann: die Familie. Der Film zeigt Marx, den Philosophen und Visionär, der seiner Zeit weit voraus war und auf fast schon prophetische Weise davor gewarnt hat, was ein entfesselter Kapitalismus anrichten würde, aus Sicht seiner Tochter. Ganz neu ist die Idee nicht, große Persönlichkeiten auf diese Weise als Menschen "zum Anfassen" und mit kleinen Fehlern zu porträtieren, aber Hartl nutzt den Ansatz nicht zum Denkmalsturz: Eleanor (Sarah Hostettler) hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Vermächtnis des Vaters zu pflegen, den sie trotz seiner Widersprüche – "ein egomanischer Sturkopf, der doch die Menschen liebte" – verehrt. Ihre Sichtweise ist natürlich eine andere als die seiner politischen Weggefährten, allen voran seines Seelenverwandten Friedrich Engels (Lutz Blochberger), der den Freund jahrzehntelang unterstützt hat.

Genauso interessant wie der erzählerische Ansatz ist die ästhetische Umsetzung. Christian Twente, der für das ZDF auf ähnliche Weise auch schon Uli Hoeneß porträtiert hat, schildert Leben und Wirken des Philosophen mit vielen Rückblenden. Die Rahmenhandlung setzt 1882 ein, Marx weilt aus gesundheitlichen Gründen in Algier und führt gewissermaßen als Erzähler ein, indem Adorf aus Briefen an die Familie vorliest. Die Rückblenden hat Twente auf sehr reizvolle Weise gestaltet: Grobkörnig, farbentsättigt und mit ihren Bildsprüngen wirken sie wie Fragmente abgenutzter Filmkopien aus den Sechzigerjahren und erinnern auf diese Weise an Ausschnitte aus alten Italo-Western. Es wird kein Zufall sein, dass Twente den Darsteller des jungen Marx (Oliver Posener) entsprechend ausstaffieren ließ. Dass die männlichen Akteure ständig Zigarren und Zigarillos paffen, weshalb die Akteure vor lauter Qualm mitunter kaum zu erkennen sind, verstärkt den Eindruck noch. Diese spezielle Art der Bildgestaltung und vor allem der Verzicht auf Hochglanzoptik verhindert auch, dass die rekonstruierten Szenen im Unterschied zu manch’ anderem Projekt dieser Art wie Anleihen aus "Terra X" wirken.

Und doch wäre "Karl Marx - Der deutsche Prophet" wohl nicht mehr als ein überwiegend aus Spielszenen bestehendes braves Dokudrama mit kurzen Einschüben verschiedener Historiker, die aufs Stichwort biografische oder zeitgeschichtliche Hintergrundinformationen liefern, wenn den Verantwortlichen nicht ein echter Besetzungscoup gelungen wäre. Für große Rollen braucht man große Darsteller, und es gibt hierzulande nicht mehr viele, die auch nur annähernd den Status von Mario Adorf besitzen. Seine Mitwirkung krönt nicht nur diesen Film, sondern auch sein eigenes Lebenswerk. Adorf ist mittlerweile 90, viele große Filme dieser Art wird er nicht mehr.  Rein biografisch ist er deutlich zu alt für die Rolle - Marx ist 1883 im Alter von knapp 65 Jahren gestorben -, aber Adorf sieht ihm dank einer stundenlangen täglichen Maskenprozedur  zum Verwechseln ähnlich.

Die Biografen und Historiker, die Twente alle an denselben Schreibtisch gesetzt hat, sprechen naturgemäß überwiegend über Marx’ Leben, sein Wirken, seine Zeit; und über seine Tochter. Deutlich zu kurz kommt dagegen der Bezug zur Gegenwart. Dabei illustriert der Film diesen Brückenschlag auf überaus anschauliche Weise mit einigen Schnittfolgen, die die Geschichte der Industrialisierung von der Mechanisierung der Webstühle bis zu heutigen vollautomatischen Fertigungsstraßen plakativ zusammenfassen. Gerade angesichts der dokumentarischen Bilder von Protesten gegen das internationale Finanzwesen und die von Marx prognostizierte Globalisierung stellt sich die Frage, warum sich der Film nicht viel stärker mit Marx’ Werk aus heutiger Sicht auseinandergesetzt hat. Erst gegen Ende kommen ein Finanzexperte und eine Wirtschaftshistorikerin zu Wort, die den Bogen schlagen und einerseits verdeutlichen, welche Bedeutung seine Erkenntnisse für die heutige Zeit haben, die andererseits aber auch mit kernigen Worten ("totaler Quatsch") die Schwachstellen seiner Anschauungen benennen. Eine fundiertere Debatte über Marx’ Werk etwa im Hinblick auf den entfesselten Turbokapitalismus oder den Neoliberalismus wäre zwar ein gänzlich anderer Film geworden, aber für die Gegenwart relevanter als die rührenden Familienszenen. Wie modern Marx dachte, belegt das letzte von vielen als Schrifttafel eingefügten Zitaten. Wo eben noch gigantische Müllberge zu sehen waren, heißt es nun, der Mensch sei "nur Nutznießer der Erde und habe sie nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen."