TV-Tipp: "Aus Haut und Knochen"

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TV-Tipp: "Aus Haut und Knochen"
1. Dezember, Sat.1, 20.15 Uhr
Mit "Aus Haut und Knochen" knüpft Sat.1 an die Tradition jener Dramen an, in denen der Sender regelmäßig relevante Themen aufgreift. Diesmal geht es um Magersucht.

Die Warnsignale sind im Grunde nicht zu übersehen; aber wer sie nicht kennt, kann sie auch nicht erkennen. Erst bricht Lara beim Joggen mit Kreislaufschwäche zusammen, dann entdeckt die Mutter im Zimmer der 16jährigen Tochter verschimmeltes Essen; außerdem legt Lara großen Wert darauf, dass die Eltern sie nicht mehr unbekleidet sehen. Mutter Susanne (Anja Kling) macht sich Sorgen, Vater Peter (Oliver Mommsen) wiegelt ab: Das Mädchen sei nun mal mitten in der Pubertät. Umso größer ist der Schock, als die Wahrheit ans Licht kommt: Aufgrund eines kindischen Streichs landet Lara beim Gartenfest der Nachbarn im Pool. Seltsamerweise droht sie zu ertrinken. Peter holt sie aus dem Wasser, Susanne hilft ihr aus den nassen Sachen: Unter mehreren Kleidungsschichten kommt ein erbarmungswürdig abgemagerter Körper zum Vorschein. Nun beginnt die eigentliche Leidenszeit, aber nicht für Lara, sondern für ihre Eltern: weil sie erkennen müssen, dass ihre geliebte Tochter eine geradezu kriminelle Energie entwickelt.

Mit "Aus Haut und Knochen" knüpft Sat.1 an die Tradition jener Dramen an, in denen der Sender regelmäßig relevante Themen aufgreift; 2019 gab es gar eine Trilogie über K.o.-Tropfen ("Lautlose Tropfen"), Stalking ("Dein Leben gehört mir") und Zivilcourage ("Ein ganz normaler Tag"). Die Filme zeichneten sich ausnahmslos durch hohe Seriosität und den Verzicht auf jede Effekthascherei aus. Für das Magersuchtdrama gilt das womöglich noch mehr, denn während bei den anderen Geschichten auch eine kriminalistische Ebene mitschwang, weil es Täter und Opfer gab, sieht das Drehbuch von Burkhardt Wunderlich ausschließlich Opfer vor: Wenn es den Eltern nicht gelingt, Laras langsames Verschwinden zu stoppen, wird sie sterben.

Neben den jederzeit glaubwürdigen darstellerischen Leistungen liegt die große Qualität des Dramas im Verzicht auf Belehrungen und Überfrachtung. Bei Themen dieser Art lauert stets die Gefahr, dass ein Autor alles unterbringen will, was er im Verlauf seiner Recherche an Wissen gesammelt hat; solche Geschichten wirken dann leicht wie ein adaptierter Wikipedia-Beitrag. Wunderlichs erstes verfilmtes Drehbuch war "Am Himmel der Tag" (2012), ein berührendes Kinodrama mit Aylin Tezel als schwangere junge Frau, deren Kind im Mutterleib stirbt; später war er maßgeblich an der kafkaesken Komödie "Plötzlich Türke" (2016) beteiligt. Zuletzt hat er für RTL2 "Wir sind jetzt" (2019/20) geschrieben. Die Jugendserie erzählt sehr authentisch vom Lieben und Leiden einer 17jährigen Schülerin. Lisa-Marie Koroll verkörperte die Hauptfigur mit einer verblüffenden Natürlichkeit und konnte sich mit Hilfe der Serie erfolgreich vom Status des Kinderstars aus den "Bibi & Tina"-Kinofilmen emanzipieren. Als magersüchtige Lara ist sie womöglich noch besser, weil ihre Rolle gleichzeitig Protagonistin und Antagonistin ist: Einerseits soll das Mädchen Mitgefühl wecken, andererseits belügt und betrügt es die Eltern nach Strich und Faden. Die Schauspielerin kennt einige von Laras Erfahrungen aus erster Hand: Mit 16 litt sie unter einer krankhaften Fixierung auf gesunde Ernährung (Orthorexie); 2017 hat sie darüber ein Buch geschrieben ("Lass Konfetti für dich regnen"). Die abgemagerte Lara wurde allerdings von einem Body-Double verkörpert.

Natürlich kommt "Aus Haut und Knochen" nicht komplett ohne typische Lehrbuchbeispiele aus, aber Wunderlich hat sie sehr beiläufig integriert. Susanne entdeckt diese Phänomene nach und nach, als sie die Sachen ihrer Tochter durchsucht. Selbst beim täglichen Wiegen gelingt es Lara, die Eltern zu täuschen. Eine einfache, aber wirkungsvolle Einstellung genügt, um ihre Motive zu verdeutlichen: Als sie vor dem Spiegel steht, sieht sie sich selbst als stark übergewichtige junge Frau, obwohl sie in Wirklichkeit klapperdürr ist. Ähnlich differenziert hat der Autor Susanne und Peter entworfen. Die beiden werden zwar mit warmen Wohlfühlbildern als perfektes Paar und liebevolle Eltern eingeführt, aber nicht nur ihre Beziehung bekommt im Verlauf des Films ein paar hässliche Kratzer: Susanne spioniert ihre Tochter ohne Rücksicht auf Intimsphäre aus, und Peter will lange nicht wahrhaben, was mit Lara los ist. Dass er selbst dann noch abwiegelt, als die Essstörung längst offensichtlich ist, mag ebenso klischeehaft wirken wie Susannes Reflex, die Schuld für Laras Magersucht bei sich selbst zu suchen, entspricht aber auch der Rollenverteilung in vielen Familien. Die Tochter weiß das geschickt zu nutzen, indem sie als Papas Liebling den Vater um den Finger wickelt und die Mutter als die Böse erscheinen lässt. Plausibel erklärt ist auch der Grund für die Krankheit: Lara sagt zwar mal, sie wolle "nicht so krass übergewichtig sein wie der Rest der Menschheit", aber tatsächlich leidet sie unter einer Mutter, die immer das Beste für ihre Tochter wollte und das Mädchen selbst nicht zur Entfaltung kommen ließ. Regisseurin Christina Schiewe hat zuletzt bevorzugt Komödien gedreht (zuletzt "Kinder und andere Baustellen", ZDF 2020). Ihr Regiedebüt "Be My Baby" war ein Drama über die Selbstbestimmung einer jungen Frau mit Down-Syndrom. Alle ihre Filme haben sich vor allem durch die gute Arbeit mit den Schauspielern ausgezeichnet; das ist bei "Aus Haut und Knochen" nicht anders.