TV-Tipp: "Helen Dorn: Kleine Freiheit"

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TV-Tipp: "Helen Dorn: Kleine Freiheit"
24. Oktober, ZDF, 20.15 Uhr
Helen Dorn, Kommissarin vom LKA Düsseldorf, geht gern über ihre emotionalen Grenzen. Das gilt auch für den 13. Fall, der seinen Titel "Kleine Freiheit" dem Namen besagter Kneipe verdankt.

Wenn Helen Dorn in eine Kneipe geht, bestellt sie ein Herrengedeck. Das passt: Die Kommissarin vom LKA Düsseldorf ist die coolste Sau im TV-Krimi. Hätte sie ihre Haare nicht zum Dutt gebunden, würde sie perfekt dem Slogan entsprechen, mit dem die deutschen Fußballfrauen 2019 zur WM gefahren sind: "Wir brauchen keine Eier, wir haben Pferdeschwänze." Kein Wunder, dass ein Herrenclub, in dem Frauen nur einmal im Monat willkommen sind, nicht in ihr Weltbild passt. Dass sie sich trotzdem Zutritt verschafft ("Heute ist Damentag"), versteht sich von selbst. Die reizvollsten Filme der Reihe mit Anna Loos waren dennoch stets jene, in denen Dorn über ihre selbstauferlegten emotionalen Grenzen gehen musste. Das gilt auch für den 13. Fall, der seinen Titel "Kleine Freiheit" dem Namen besagter Kneipe verdankt.

Wie schon in "Prager Botschaft" (2018) muss die Polizistin zum Auswärtsspiel reisen, als den Hamburger Kollegen ein Ganove ins Netz geht, dem Dorn schon seit 14 Jahren auf den Fersen ist. Eigentlich geht es dabei aber gar nicht um Ron Faber (Jörn Hentschel), sondern um einen achtjährigen Jungen, auf den die Kommissarin damals durch Zufall getroffen ist: Der kleine Luis war offensichtlich misshandelt worden. Kurz drauf ist er verschwunden; und wenig später auch Faber, den Dorn laufen lassen musste, weil ihm nichts nachzuweisen war. Seither sucht die Kommissarin nach dem mutmaßlichen Kindermörder. Faber hat in Hamburg nach einem (spektakulär gefilmten) Unfall angeblich sein Gedächtnis verloren; als Dorn handgreiflich wird, sagt er, Luis gäb’s nicht mehr. Kurz drauf entgeht er nur knapp einem Mordversuch; nun nimmt die Handlung gleich mehrere verblüffende Wendungen, und Dorn muss sich fragen, ob sie jahrelang einem Irrtum aufgesessen ist.

"Kleine Freiheit" ist Mathias Schneltings sechstes Buch für "Helen Dorn". Alle waren ausgezeichnet und hatten maßgeblichen Anteil daran, dass die Reihe zu den zuverlässig besten im ZDF gehört, zumal der Autor seine Heldin immer wieder mit potenten Gegenspielern konfrontiert (allen voran Heino Ferch als unbarmherziger Jugendrichter in "Gnadenlos", 2017), die auch mal aus den eigenen Reihen stammen ("Gefahr im Verzug" mit Armin Rohde, 2016). Außerdem sorgt Schnelting gern dafür, dass Dorn während ihrer Ermittlungen geschwächt ist, mal körperlich, mal emotional; oder beides gleichzeitig. Diesmal macht ihr noch die Ermordung ihres Chefs (im letzten Film, "Atemlos") zu schaffen. Aus Sorge um Luis überschreitet sie außerdem ihre Kompetenzen, weil sie ständig hinter dem Rücken der eigentlich zuständigen Hamburger Kollegin Katharina Tempel (Franziska Hartmann) ermittelt.

Die Konfrontation dieser Frauen hat einen ganz erheblichen zusätzlichen Reiz: Temperament und Lebensentwurf mögen gänzlich verschieden sein, aber beide haben sich in einer Männerwelt durchgesetzt; und insgeheim bewundert Katharina Dorns Mut zu Alleingängen. Sehr schön getroffen sind auch Nebenfiguren wie etwa Bardame Marlene (Jessica Kosmalla), die dem Film mit einem Camus-Zitat seine Überschrift gibt: "Der Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheit." Ein weiteres Qualitätsmerkmal des Drehbuchs ist die komplexe Geschichte: Die Suche nach Luis ist zwar weit mehr als bloß ein Vorwand, aber tatsächlich geht es um Menschenhandel, moderne Sklaverei und die chinesischen Triaden. Wie Schnelting diese beiden Ebenen dank einer cleveren Irreführung zu Beginn miteinander verknüpft, wie aus Tätern Opfer und aus Honoratioren Täter werden, die sich als skrupellose Verbrecher entpuppen, wie Dorns Suche nach Luis dennoch ständig präsent bleibt und die Lösung die ganze Zeit zum Greifen nah ist: Das ist große Klasse.

Marcus O. Rosenmüller hat seit 2014 sämtliche "Taunus-Krimis" fürs ZDF gedreht und seine Qualität als Thriller-Regisseur schon oft genug bewiesen. "Kleine Freiheit" setzt jedoch viel stärker auf innere als auf äußere Spannung, selbst wenn die Handlung noch einige Opfer kostet; gerade auf der Seite der Guten. Geschickt hält Rosenmüller den Film in der Schwebe. Das gilt für den Inhalt, weil Vieles nicht so ist, wie es scheint, aber auch für die Umsetzung, die sogar Platz für ein bisschen Romantik lässt: Kriminaltechniker Weyer (Tristan Seith) hat sich in die Telefonstimme seiner Hamburger Kollegin (Nagmeh Alaei) verliebt. Als er Dorn kurzerhand nachreist, kommt es zu einer Begegnung wie aus einer romantischen Komödie. Da trifft es sich außerordentlich gut, dass Rosenmüller auch die nächste Episode ("Wer Gewalt sät") in Hamburg drehen durfte, zumal Katharina Tempel eine Geschichte hat, die ebenfalls noch nicht auserzählt ist. Außerdem streut der Film angenehm beiläufig mit Hilfe eines Klebezettels ein, dass Richard Dorn (Ernst Stötzner) wieder solo ist; er kündigt an, nach Hamburg zu kommen, und auch das verspricht heiter zu werden. Mutig ist hingegen der Schluss: Dem tragischen Ende der eigentlichen Handlung folgt ein überraschender Epilog. Dass sich eine TV-Kommissarin auf eine Bühne stellt, um einen Song von Lera Lynn vorzutragen, gibt’s nicht alle Tage; und selbstredend macht Anna Loos, langjährige Sängerin der Band Silly, auch das hervorragend.