"Wir müssen lernen, missionarisch zu sein"

Luftaufnahme der sibirischen Stadt Krasnoyarsk
© Sergey Filinin/AFP/Getty Images
Luftaufnahme der sibirischen Stadt Krasnoyarsk. Im Interview erklärt Bischof Alexander Scheiermann, warum die Lutherische Kirche in Sibirien eine gute Position hat.
"Wir müssen lernen, missionarisch zu sein"
Warum die Lutherische Kirche in Sibirien eine gute Position hat, erklärt Bischof Alexander Scheiermann, Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ural, Sibirien und Ferner Osten, im Interview mit Dariusz Bruncz von ewangelicy.pl. Flächenmäßig betrachtet ist sie die größte lutherische Kirche weltweit.

Herr Bischof, Sibirien oder Ural - das klingt nicht gerade wie ein "kanonisches Terrain" einer evangelisch-lutherischen Kirche. Auf welche Weise kann man diese Gebiete mit der lutherischen Tradition verbinden?

Alexander Scheiermann: Das Territorium ist sehr groß und wir haben rund 120 Gemeinden mit schätzungsweise 15.000 Mitgliedern. Vor ein paar Jahren haben wir 300 Jahre der lutherischen Präsenz in Sibirien gefeiert. Die ersten Lutheraner waren natürlich Deutsche, aber nicht nur – es waren auch Lutheraner aus den baltischen Staaten, Schweden oder Finnland. Das waren vor allem Offiziere, Ärzte und Handwerker. So kam das Luthertum nach Sibirien.

Ist das Luthertum in Sibirien immer noch multikulturell oder nur noch russisch und deutsch?

Scheiermann: Zur sowjetischen Zeit war es mehr so, dass die lutherische Kirche mehr deutsch und ein bisschen finnisch geprägt war, aber heute – vor allem wegen der deutschen Auswanderung – sind unsere Gemeinden multinational und weniger deutsch geprägt. Es kommen nicht nur Russen, sondern auch Ukrainer, Armenier und alle anderen Nationalitäten, die hier wohnhaft sind.

120 Gemeinden und wie viele Pfarrer?

Scheiermann: Wir haben jetzt für die ganze Kirche 18 Pastoren und über 100 Laienprediger. Hinzu kommen noch natürlich viele Mitarbeiter, die Jugend- und Kinderarbeit machen oder im diakonischen Bereich tätig sind. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass sie alle ehrenamtlich arbeiten!

Dürfen auch Laienprediger den Abendmahlsgottesdiensten vorstehen?

Scheiermann: Ja, aber nur zum Teil. Es gibt Prediger, die mit Sakramentsverwaltung beauftragt sind und wir haben auch andere Prediger und Predigerinnen, die nur Wortgottesdienste halten.

2016 sind Sie zum Bischof gewählt worden und 2017 in das Bischofsamt eingeführt. Rechnen Sie überhaupt damit, dass Sie imstande sein werden, alle Ihre Kirchengemeinden aufzusuchen? Ihre Kirche ist flächenmäßig die größte lutherische Kirche der Welt!

Scheiermann: Sibirien ist ja groß und die Entfernungen machen uns große Schwierigkeiten. Natürlich spielt hier auch die finanzielle Frage eine Rolle, aber die Erwartung ist schon da, dass wir eine Strategie entwickeln, die uns erlaubt, die Pastoren nicht nur als Betreuer einzusetzen, sondern dass die seelsorgerliche Betreuung vor Ort da ist.

Sie arbeiten in einem mehrheitlich orthodoxen Land. Wie sieht die Zusammenarbeit und die Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche aus? Kann man überhaupt von einer Ökumene sprechen?

Scheiermann: Von Ort zu Ort ist es unterschiedlich. Da wir historisch großen Vorsprung haben, wird unsere Tätigkeit kirchlicher- und staatlicherseits akzeptiert. Klar, die orthodoxe Kirche hat viele Privilegien, aber wir werden positiv wahrgenommen. Ich will damit nicht sagen, dass wir wie beste Freude behandelt werden. Die Lage hängt auch von unseren Pastoren ab, wie sie diese Gemeinschaft auch pflegen. Ich kann nur von positiven Aspekten sprechen.

Gibt es also ökumenische Gottesdienste mit der orthodoxen Kirche?

Scheiermann: Das weniger. Aus meiner eigenen Erfahrung aus Saratow an der Wolga kann ich berichten, dass ich zum Ortsbischof, der jetzt Metropolit geworden ist, guten Kontakt hatte. Es gab kein Problem, ein Treffen zu organisieren und miteinander zu sprechen. Er kommt allerdings nicht zu unseren Gemeindeveranstaltungen, aber gelegentlich tauchen einzelne orthodoxe Priester zum Grußwort auf.

"Russland ist kein christliches Land"

Aber in einem christlichen Land wie Russland fällt es Ihnen aber nicht schwer über christlichen Glauben zu sprechen, auch wenn für viele eine evangelische Kirche unbekannt ist?

Scheiermann: Vielleicht, um die Sache noch vorwegzunehmen: Russland ist kein christliches Land. Statistisch gesehen kommen heute weniger als ein Prozent der Bevölkerung am Sonntag zum Gottesdienst. Selbst in Saratow kam nur ein Bruchteil der Gläubigen zur Osterfeier. In Moskau war es vielleicht besser, wo rund drei Prozent zur Kirche kommen. Diese Daten werden auch von der orthodoxen Kirche veröffentlicht. Russland ist längst kein christliches Land, obwohl 70 bis 75 Prozent der Menschen orthodox getauft sind.

Gibt es Übertritte oder Neuaufnahmen in die evangelisch-lutherische Kirche?

Scheiermann: Es ist schwierig einzuschätzen, weil es wirklich sehr unterschiedliche Kirchengemeinden gibt. Wir müssen lernen, missionarisch zu sein. Wir müssen unsere Leute schulen, damit sie überhaupt wissen, wie man missionarisch wirkt, zum Glauben führt und in die Gemeinde integriert. Viele Menschen haben noch diese Angst aus sowjetischer Zeit offen über ihren Glauben zu sprechen. Wir stehen in unserer Kirche vor der sprachlichen Herausforderung. Wir haben noch kleinere Gruppen, die Deutsch oder Finnisch sprechen, aber andere Sprachen haben keine Zukunft hier. Wir können natürlich deutschsprachige Hauskreise pflegen, aber Gottesdienste müssen schon in einer verständlichen Sprache sein, sonst verlieren wir unsere Kinder. Vor kurzem machte ich einen kurzen Besuch in einer Gemeinde, die 30 Leute hat, überwiegen ältere Leute. Alles wird in Deutsch gemacht und ich fragte sie, wo ihre Kinder sind. Eine Frau antwortete, ihre Tochter sei bei den Baptisten, was eben nichts Schlimmes ist, aber die anderen sind einfach verschwunden. Wir müssen Menschen helfen, diesen sprachlichen Übergang zu wagen.

Was bedeutet für Sie und Ihre Kirche evangelisch in Sibirien zu sein? Gibt es da eine Besonderheit, die Euch auszeichnet?

Scheiermann: Die Lutherische Kirche hat eine gute Position. Wir sind zwischen orthodoxen und Freikirchen. Wir haben eine Liturgie wie die Orthodoxen, aber nicht so eine ausführliche. Und damit haben wir wiederum, was die Freikirchen nicht haben. Außerdem haben wir eine Predigt, Chor, Gesang wie Freikirchen und damit wiederum was die orthodoxe Kirche nicht hat. Wir sind in der Mitte. Wir haben beide Elemente: Liturgie und Wortverkündigung. Unsere Gemeinden sind offen und in der Regel haben viele Gemeindemitglieder eine Hochschulausbildung. Das macht unsere Kirche attraktiv und interessant für die Leute.

evangelisch.de dankt ewangelicy.pl für die Kooperation. Dieses Interview wurde Mitte 2019 geführt.