TV-Tipp: "Tatort: Kein Mitleid, keine Gnade" (ARD)

Alter Fernseher vor einer Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Tatort: Kein Mitleid, keine Gnade" (ARD)
12.1., ARD, 20.15 Uhr
Der "Tatort" aus Köln ist bekannt dafür, regelmäßig Themen von aktueller gesellschaftlicher Relevanz aufzugreifen. Die Geschichten sind oft berührend und bedrückend; allerdings haben es die Autoren und Regisseure nicht immer so exzellent wie einst Niki Stein in seinem Kinderhandelkrimi "Manila" (1998) verstanden, Botschaft und Spannung in einen guten Einklang zu bringen.

An die Ausnahmequalität dieses Films reicht "Kein Mitleid, keine Gnade" nicht ganz heran, aber davon abgesehen ist der 77. Fall des Duos Ballauf und Schenk (Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär) ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie ein Anliegen harmonisch in eine fesselnde Krimihandlung integriert werden kann: Autor Johannes Rotter deutet das Thema Cybermobbing zunächst eher beiläufig an; und dann steht es plötzlich im Mittelpunkt.

Der Auftakt lässt ohnehin nicht erahnen, wohin die Reise geht, weil Regisseur Felix Herzogenrath den Prolog dank der vorzüglichen Bildgestaltung von Gunnar Fuß wie den Beginn eines Horrorfilms inszeniert. Die Szene spielt nachts in einem heruntergekommenen Haus. Die Aufnahmen zeigen einen jungen Mann in knallroter Jacke, der zur Seite aus dem Bild verschwindet, um anschließend aus völlig anderer Richtung wieder aufzutauchen. Dann entdeckt die Kamera eine blutige Schleifspur und folgt ihr zu einem Fenster. Draußen vor dem Haus liegt die Leiche des Jungen; neben ihm die rote Jacke. Farbtupfer dieser Art wird es im weiteren Verlauf des Films immer wieder geben: ein roter Kapuzenpullover, eine gelbe Winterjacke, rote Stiefeletten, gelbe Handschuhe. Darüber hinaus setzt Fuß, ohnehin einer der besten seines Fachs, mehrfach farbliche Akzente, indem er Räume in giftgrünes oder blutrotes Licht taucht. Das verleiht dem Film eine besondere Atmosphäre und bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die Stimmung der jeweiligen Szenen. Diese Lichtinseln bilden einen reizvollen Kontrast zu den Aufnahmen von herbstlicher Tristesse (Krähen inklusive), die Herzogenrath immer wieder einstreut.

Die Krimiebene verläuft nach dem faszinierenden Auftakt zunächst in üblichen Bahnen. Nach dem Fund der Leiche fährt das Ermittlerduo zur Schule des Jungen. Dort zeigt sich rasch, dass es einige Mitschüler auf den 17-jährigen Jan abgesehen hatten, allen voran Robin (Justus Johanssen); die beiden waren befreundet, bis sich Jan zu seiner Homosexualität bekannt hat. Dessen Nachfolger als Mobbingopfer ist nun sein bester Freund Paul (Thomas Prenn). Zur Mobbinggruppe gehört auch Nadine (Emma Drogunova), die ein mieses Spiel mit Schenk treibt: Sie bezichtigt ihn der sexuellen Belästigung. Die Mitschüler haben die Szene gefilmt, das Video landet umgehend im Netz; der unbescholtene Polizist sieht sich plötzlich ausgerechnet an seinem Geburtstag einer Hexenjagd ausgesetzt.

Herzogenrath vermittelt auch dank Dietmar Bär ganz ausgezeichnet, wie sich das für Schenk anfühlt: Prompt entwickelt er eine Art Paranoia. Der Kommissar ist überzeugt, überall um ihn herum – "Kein Rauch ohne Feuer" – werde über sein vermeintliches Vergehen getuschelt. Weil Buch und Regie die nun folgenden Vorfälle aus zweiter Hand zu erzählen, wird die Hilflosigkeit Schenks, der mit einem Disziplinarverfahren wegen Nötigung im Amt rechnen muss, noch deutlicher. Dieser Teil der Handlung ist mindestens so reizvoll wie der eigentliche Fall, weil die Fallhöhe so groß ist: Die Schüler zeigen keinerlei Respekt vor der Macht des Polizeiapparats, den Schenk repräsentiert; deshalb ist auch er selbst machtlos. Ein ähnliches Gefühl vermittelt ein weiterer Erzählstrang, obwohl er letztlich bloß in eine Sackgasse führt: Dank einer Dating-App für Schwule werden die Ermittler auf einen Rettungssanitäter (Karim Günes) aufmerksam. Der junge Mann hat eine Alibifreundin (Anke Retzlaff), weil sein Vater nichts von seiner Homosexualität erfahren soll. Das tragische Ende dieser Nebengeschichte ist genauso erschütternd wie die Lösung des Mordfalls.

Mit den am Schluss nachgereichten furchtbaren Bildern des Tathergangs, als Jan zu Tode getreten wird, greift der Film den Prolog wieder auf. Die Szene ist womöglich noch wirkungsvoller, weil die Geräusche ausgespart werden. Zu hören ist nur der letzte Tritt; aber der genügt völlig. Ansonsten kann es sich Herzogenrath dank der vorzüglichen Bildgestaltung und der ausgezeichneten Musik (Sven Rossenbach, Florian van Volxem) in seinem ersten "Tatort" erlauben, auf Nervenkitzel zu verzichten, zumal er gerade die jungen Darsteller prima geführt hat. Der Regisseur hat zuletzt eine richtig gute und eine eher durchschnittliche Folge für die ARD-Reihe "Nord bei Nordwest" inszeniert ("Waidmannsheil" und "Frau Irmler", beide 2018) und zuvor den Zweiteiler "Der Staatsfeind" (2018, Sat.1) mit Henning Baum als vom MAD gejagter vermeintlicher Terrorist.

Drehbuchautor Johannes Rotter ist für "Kehrtwende" (2011), ein Drama mit Dietmar Bär über häusliche Gewalt, mit dem Robert Geisendörfer Preis ausgezeichnet worden. Zuletzt hat er unter anderem "Erntedank" geschrieben, die richtig gute Jubiläumsfolge der ZDF-Reihe "Ein starkes Team" (2019). Für den „Tatort“ aus Köln hat Rotter bereits die Episode "Mitgehangen" (2018) verfasst. Der intensive Krimi lebte nicht zuletzt von einem tiefgreifenden Zwist zwischen den beiden Ermittlern. In "Kein Mitleid, keine Gnade" zweifelt Ballauf dagegen keine Sekunde an Schenks Unschuld.