TV-Tipp: "Die Ungewollten - Die Irrfahrt der St. Louis"

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TV-Tipp: "Die Ungewollten - Die Irrfahrt der St. Louis"
21.10., ARD, 20.15 Uhr
Auch ohne den versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle wäre "Die Ungewollten" ein Film von bedrückender Aktualität: Das Dokudrama erzählt von Flüchtlingen, die niemand haben will.

Die Geschichte der über 900 Juden, die im Mai 1939 mit einem Schiff der Hamburger Reederei Hapag nach Kuba reisen wollen, ist schon einmal verfilmt worden. Das mit Stars gespickte britische Kinodrama "Reise der Verdammten" (1976) erzählte die Odyssee vor allem aus Sicht der Passagiere. Die ARD-Produktion ist mehrere Nummern kleiner und wirkt zudem nicht zuletzt wegen der dominierenden fernsehtypischen Einstellungen – viele Großaufnahmen, kleine Gruppen statt Massenszenen – recht sparsam. Das gilt auch für die Besetzung; die deutschen Mitwirkenden lassen sich an einer Hand abzählen. Die beiden Hauptrollen stechen daher umso stärker hervor: Ulrich Noethen spielt Gustav Schröder, den Kapitän der St. Louis, Britta Hammelstein repräsentiert als Martha Stern, deren Mann (Golo Euler) bereits auf Kuba ist, die Emigranten. Bis auf wenige Ausnahmen sind die weiteren Sprechrollen mit Portugiesen besetzt worden (der Film ist komplett in Portugal entstanden), weshalb viele Dialoge synchronisiert werden mussten.

Wollte man dem Film Böses, könnte man sagen: "Die Ungewollten" ist braves öffentlich-rechtliches Fernsehen, das sich am üblichen Muster orientiert. Noethen und Hammelstein ergänzen die Handlung regelmäßig durch Off-Kommentare. Die Arbeitsteilung ist offenkundig: Der Kapitän sorgt für Hintergrundinformationen, die Passagierin – "Angst? Immer. Überall. Schon lange." – soll Gefühle vermitteln und Empathie wecken. Ben von Grafenstein kombiniert die Spielszenen immer wieder mit authentischen Fotografien, die geschickt in die Handlung integriert werden, weil Martha dauernd fotografiert; einige der portugiesischen Nebendarsteller weisen eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Menschen auf den Fotos auf. Eine wichtige Ergänzung sind die Aussagen der Zeitzeugen. Viele Passagiere waren damals Kinder und haben entsprechend lebhafte Erinnerungen an die von ihnen als großes Abenteuer erlebte Reise. Auf ähnliche Weise hat der Regisseur schon von der endgültigen Teilung Berlins 1961 aus der Sicht von sechs Jugendlichen erzählt ("Die Klasse – Berlin ’61", 2015, ARD). Noch besser war sein Dokudrama über Helmut Schmidt ("Lebensfragen", 2013, ARD). Das lag einerseits nicht zuletzt am charismatischen Protagonisten, aber auch an den gelungenen Spielszenen.

Ähnlich wie der deutsche Meister dieses Genres, Raymond Ley, nutzt von Grafenstein die dokumentarischen Elemente vor allem zur Illustrierung. Gerade die zeitgenössischen Aufnahmen des Ozeanriesen dienen als Ersatz, weil die St. Louis schon vor Jahrzehnten abgewrackt worden ist und es viel zu kostspielig gewesen wäre, ein Schiff zu chartern und umzugestalten. Die Gespräche mit den heute zum Teil hochbetagten Mitreisenden wiederum wirken oft, als sollten sie die Authentizität der filmischen Rekonstruktion bestätigen. Über sich hinaus weisen die Ausschnitte erst gegen Ende, als sich die Männer und Frauen verbal vor Schröder verneigen; der Kapitän ist nach seinem Tod in Yad Vashem, der israelischen Gedenkstätte für die Märtyrer und Helden im Holocaust, in den Kreis der "Gerechten unter den Völkern" aufgenommen worden.

Allerdings lag dem Autorenduo Susanne Beck und Thomas Eifler, dem Regisseur sowie dem Hauptdarsteller offenkundig nichts ferner, als Schröder zu einer überlebensgroßen Figur zu heroisieren; Noethen verkörpert den Kapitän mit stoischer hanseatischer Ruhe. Der Film vermittelt vielmehr, dass der Mann nur seine Pflicht getan hat, weil er sich, obschon Mitglied der NSDAP, nicht dem Nationalsozialismus, sondern der Menschlichkeit verpflichtet fühlte. Als sich die kubanische Regierung weigert, die Menschen an Land zu lassen, widersetzt sich Schröder dem Befehl seiner Reederei, die ihn umgehend nach Hamburg zurückbeordert. Tatsächlich entpuppt sich die gesamte Passage als Coup des Propagandaministeriums: Die Nationalsozialisten wollten mit der Aktion beweisen, dass Juden auch anderswo nicht erwünscht sind. Selbst die Vereinigten Staaten, das Einwanderungsland schlechthin, haben sich geweigert, die Menschen aufzunehmen: Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit fürchteten die Bürger, die Immigranten könnten ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.

Weil die Handlung empörend genug ist, konnten Buch und Regie weitgehend darauf verzichten, sie zusätzlich zu dramatisieren. Stattdessen setzt von Grafenstein auf Auslassungen. Als Martha vor Beginn der Reise zur "Leibesvisitation" durch einen Offizier befohlen wird, spart der Regisseur die ohnehin mutmaßlich voyeuristische Szene aus. Bei anderen Ereignissen dürfte die Zurückhaltung nicht zuletzt eine Frage des Geldes gewesen sein: Ein mit Gewalt niedergeschlagener Aufstand einer dreißigköpfigen Gruppe, die das vor Kuba liegende Schiff mit Gewalt verlassen will, wird bloß erzählt. Während Kameramann Raphael Beinder kaum Spielräume hat, weil sich die Bildgestaltung auf die Schauspieler konzentriert, setzt die Musik umso prägnantere Akzente: André Feldhaus beginnt mit unheilvoll dynamischen elektronischen Klängen und findet mit zärtlichen Klavierakkorden oder sanft euphorisierter Musik stets die richtige Untermalung für die Spielszenen.

Der Film endet mit der Information über das weitere Schicksal der Passagiere: Die St. Louis durfte im Hafen von Antwerpen anlegen, die Menschen fanden Zuflucht in Belgien, Holland, Frankreich und Großbritannien; trotzdem sind über 250 von ihnen im Verlauf des Holocaust ermordet worden.