Private Mauerfall-Geschichten

Beginn des Abrisses der Berliner Mauer am Brandenburger Tor
© epd-bild/Rolf Schulten
Beginn des Abrisses der Berliner Mauer am Brandenburger Tor (Ostberlin), 28.04.1990. Im Hintergrund der Reichstag.
Private Mauerfall-Geschichten
Kirche bietet Erzählsalons für wertfreies Reden 30 Jahre nach Mauerfall
Im Gemeinderaum der Hoffnungskirche in Berlin-Pankow bekommen Menschen die Chance, ihre Geschichten zum Mauerfall zu erzählen. Jedem wird zugehört, niemand wird unterbrochen und nichts wird kommentiert. Pfarrerin Trende hat den Erzählsalon aus Gründen ins Leben gerufen.

"Ich war vor 50 Jahren das letzte Mal in der Kirche. Aber Konfirmation habe ich nicht gemacht, sondern Jugendweihe", sagt ein untersetzter älterer Ost-Berliner als er den Gemeinderaum der Hoffnungskirche in Berlin-Pankow betritt. Trotz seiner Skepsis geht er in das Gotteshaus. Denn er findet es "richtig gut", dass die Kirche ganz normalen Leuten und ihren Geschichten zum Mauerfall zuhören will.

Der damalige S-Bahnfahrer war einer der ersten DDR-Bürger, die am 9. November 1989 kurz vor Mitternacht die Bornholmer Brücke von Ost- nach West-Berlin überquerten. Um drei Uhr morgens machte er sich wieder auf den Heimweg. "Ich wollte ja zurück zu Frau und Kindern", sagt der Mann. Und dann erzählt er noch: "Ich hatte Herzklopfen, ob sie mich wieder rein lassen in die DDR."

Es sind kleine individuelle Geschichten wie diese, "die unbedingt gehört werden sollten", ist Pfarrerin Margareta Trende überzeugt. Mitte September hat sie deshalb einen Erzählsalon in ihrer Kirche ins Leben gerufen. Am Samstag (21. September) sowie im Oktober und November folgen weitere. Hier sollen unbekannte Zeitzeugen ihre Erlebnisse von der politischen Wende erzählen können.  

Zwölf Menschen kommen zum ersten Erzählsalon in die Kirche. Manche berichten kurz, manche ausschweifend über ihre persönliche Mauerfall-Geschichte. Unterbrochen wird niemand. Auch kommentiert wird nichts. "Es geht um einen wertfreien Raum, wo jeder gleichberechtigt und hierarchiefrei reden kann", betont Tonka Rohnstock, die den Erzählsalon moderiert.

"Es gibt so viele und so unterschiedliche Erfahrungen, die 1989 gemacht wurden: glückliche und unglückliche, dankbare und schmerzende, erhebende und niederschmetternde", sagt die Pfarrerin. Und viele Menschen - gerade in Ostdeutschland - hätten das Gefühl, dass sich niemand dafür interessiert. Angesichts des Rechtspopulismus in Ostdeutschland und dem offenbar großen Frust bei Vielen sei es wichtig, miteinander über das eigene Leben zu sprechen. "Reden kann heilen", ist die Pfarrerin überzeugt.

Mauerfall als "Traum" und "Wunder"

Olaf H. erzählt, wie er im Frühjahr 1988 als junger Mann in der Hoffungskirche die Düsseldorfer Punkband "Die Toten Hosen" erlebt hat. Ganze zehn Minuten habe das Spektakel gedauert, erinnert er sich begeistert. Danach lösten DDR-Polizei und Stasi das Punkkonzert in der Kirche auf.

Die fehlende Meinungs- und Reisefreiheit hat den damals 26-Jährigen auf die Barrikaden gebracht: "Ich dachte, es kann doch nicht sein, dass ich den anderen Teil meines Heimatlandes nicht besuchen kann." Als dann die Mauer fiel, sei für ihn "ein Traum wahrgeworden". "Dass es wirklich so gekommen ist, darüber freue ich mich bis heute", sagt Olaf H. Danach sei er weit gereist, unter anderem bis nach Peru, wo er seine Ehefrau kennenlernte.

Auch Olafs Vater ist beim Erzählsalon. Für ihn seien die Wende und der Mauerfall "ein Wunder". Die Kirche habe daran ihren Anteil. "Dass es 1989 friedlich blieb, ist auch ein Verdienst der Kirche", sagt er. Aber auch die Kirche sei in der DDR teilweise unterwandert gewesen. So habe eine Pfarrerin, die er kannte, als Stasi-IM gearbeitet. Daran wolle er ebenfalls erinnern.

Nicht nur ältere Ostdeutsche sind zum Erzählsalon gekommen. Auch der 30-jährige Frederik aus dem bayerischen Regensburg will diese privaten Mauerfall-Geschichten hören. Womöglich war es eine Frau, die ihn dazu brachte, als sie ihm vorwarf "Du bist so typisch Wessi!". "Ich versuche bis heute zu verstehen, was sie gemeint hat", sagt Frederik. Das Leben in der DDR habe viele Menschen geprägt. "Es ist offenbar wichtig. Ich will das Ganze verstehen", erklärt der Sozialwissenschaftler.

"Heldengeschichten haben wir schon genug gehört", erläutert Pfarrerin Trende den Grund für die Erzählsalons in der Kirche. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall gebe es noch Wut auf das DDR-System "und noch so viele Verletzungen" in den Menschen. Das Bedürfnis zum Reden sei da. Die Pfarrerin plädiert dafür, stärker öffentlich darüber zu sprechen.