"Inspiriert durch den Atem Gottes"

Beinhaus in Solferino
© epd-bild/Dirk Baas
Das Beinhaus in Solferino wurde errichtet als Denkmal für die in der Schlacht von Solferino Getöteten.
"Inspiriert durch den Atem Gottes"
Nach der Schlacht von Solferino vor 160 Jahren gründet Henry Dunant das Rote Kreuz
Henry Dunant wird im Juni 1859 Augenzeuge der blutigen Schlacht von Solferino südlich des Gardasees. Das Leid der hilflos sterbenden Verwundeten berührt ihn zutiefst.

Warm streicht der Wind durch die weißen Marmorzinnen des Torre di San Martino. Der Turm im Weinanbaugebiet San Martina della Battaglia in Sichtweite des Gardasees erinnert seit 1863 an ein grausiges Gemetzel: Vor 160 Jahren tobt rund sechs Kilometer entfernt bei Solferino eine blutige Schlacht (italienisch: battaglia). Danach liegen 6.000 Soldaten tot und 40.000 verletzt am Boden. Der Genfer Kaufmann Henry Dunant (1828-1910) ist Zeuge der Kämpfe. Die schrecklichen Erlebnisse lassen ihn nicht ruhen - und führen vier Jahre später zur Gründung des Roten Kreuzes.

Der "Torre di San Martino".

Was war passiert? Am 24. Juni 1859 treffen rund 150.000 Soldaten Piemont-Sardiniens vereint mit den Franzosen auf 130.000 Österreicher. Die werden besiegt und müssen Oberitalien räumen - Voraussetzung für die Gründung des Nationalstaates Italien. An diesen blutigsten Waffengang seit der Schlacht von Waterloo im Jahr 1815 erinnern heute der Turm, ein Museum, Ehrenmale und eine Kapelle mit den sterblichen Überresten von 2.619 gefallenen Soldaten.

Der 31-jährige Dunant hält sich zu jener Zeit in Castiglione delle Stiviere auf, acht Kilometer von Solferino entfernt. Nach der Schlacht verbindet er Wunden, bringt Wasser, spendet Trost. Und er ruft die Frauen des Dorfes zusammen, um alle Soldaten, gleich welcher Nationalität, zu versorgen. Er handelt, wie er später schreibt, "inspiriert durch den Atem Gottes".

Versorgung für alle - gleich welcher Nation

Auf Karren, Tragen, Eseln, Pferden und auf den Schultern von Kameraden gelangen die meist Todgeweihten in provisorische Lazarette in Kirchen, Schulen und Privathäusern. Dunants Motto wandert von Mund zu Mund: "Wir sind alle Brüder".

"Dunant lief umher, packte überall mit an, und er protokollierte in seinen Erinnerungen mit entsetztem Blick das Grauen, das sich ihm bot", schreibt der Autor Ulrich Ladurner, dessen Vorfahr aufseiten der Österreicher an der Schlacht teilnahm: "Viele Soldaten lagen auf den Bürgersteigen. Blut floss in den Rinnstein und mischte sich mit den Tränen der Sterbenden. Der Strom der Verzweiflung wollte nicht abreißen."

Geboren wird Dunant am 8. Mai 1828 in Genf. In der Schule kein Ass, verlässt er das Gymnasium mit 14 Jahren, beginnt eine kaufmännische Lehre. Der junge Mann engagiert sich in philanthropischen und religiösen Bewegungen, gründet 1852 den Genfer Christlichen Verein junger Männer (CVJM) und unterstützt auch die Gründung des CVJM-Weltbundes, wie das Historische Lexikon der Schweiz vermerkt.

Sein Buch sorgt für Furore

Ab 1853 ist er als Angestellter einer Genfer Firma in Algerien tätig. Dann macht er sich selbstständig und gründet 1858 die Mühlengesellschaft von Mons-Djémila. Doch es fehlt ihm an Ländereien und Wasser in der französischen Kolonie, ihm droht der Konkurs.

1859 versucht Dunant, Kaiser Napoleon III. persönlich anzutreffen, um mit dessen Fürsprache seine Geschäfte anzukurbeln. Er reist in die Lombardei, wo der Kaiser Krieg führt. Für Dunant hat der Monarch allerdings keine Zeit, denn in Solferino beginnt die Entscheidungsschlacht.

In Genf schreibt Dunant danach das Büchlein "Eine Erinnerung an Solferino". 1.600 Exemplare lässt er auf eigene Kosten drucken. In drastischen Schilderungen berichtet er von der Schlacht und über das Chaos in den Tagen danach. Dunant beklagt den Mangel an Ärzten, Verbandszeug, Trinkwasser und Hygiene. Er schickt seine Schrift an führende Persönlichkeiten in Politik und Militär in ganz Europa und konfrontiert sie mit seiner Kernforderung: "Jeder Verwundete muss versorgt werden, egal, welche Uniform er trägt."

Zudem regt er an, "während einer Zeit der Ruhe und des Friedens" eine Gesellschaft zu gründen, "die aus großherzigen Freiwilligen zusammengesetzt ist, um den Verletzten in Kriegszeiten zu helfen." Es geht ihm auch um ein zwischenstaatliches Abkommen über die Neutralität der Lazarette und der Sanitäter. Für die aktive Arbeit solle eine eigenständige, geschützte Hilfsorganisation gegründet werden.

Das Buch sorgt für Furore. Dunant stellt seine Ideen bei der "Gemeinnützigen Gesellschaft von Genf" vor. Die setzt ein Komitee ein, das prüft, wie die visionären Vorschläge Realität werden können. Dunant wird Sekretär des Komitees, das am 17. Februar 1863 erstmals tagt - das Treffen gilt als Gründungsakt des "Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" (IKRK).

Tiefer Fall

Im Oktober kommen Vertreter aus 16 Ländern in die Schweiz und beraten das weitere Vorgehen. Am 22. August 1864 wird die Konvention über die "Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen" (Erstes Genfer Abkommen) unterzeichnet. Die erste Genfer Konvention gilt heute als Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts. Später kamen drei weitere Konventionen hinzu.

Dunant ist am Ziel, genießt höchstes Ansehen. Doch dann geht sein Unternehmen pleite, er landet wegen betrügerischen Bankrotts vor Gericht. Das Rote Kreuz lässt seinen Gründervater fallen. Finanziell ruiniert, bettelt er sich 20 Jahre lang durch Europa, wird gar für tot gehalten.

Schließlich findet er 1887 Unterschlupf in dem kleinen Dorf Heiden am Bodensee. Dunants Familie hatte ihm eine monatliche Rente von 100 Franken ausgesetzt. Das Geld reicht, um sich dauerhaft im Hospital des Arztes Hermann Altherr einzuquartieren.

Henri Dunant (Foto um 1900), erhielt 1901 den ersten Friedensnobelpreis. Dunant rührt das Preisgeld nicht an.

Dort spürt ihn 1895 der Schweizer Journalist Georg Baumberger auf. Er würdigt den alten Mann in der Zeitschrift "Über Land und Meer" als Schöpfer des modernen humanitären Völkerrechts. Plötzlich ist Dunant wieder zurück in der Öffentlichkeit, Hilfsangebote und Auszeichnungen mehren sich.

1901 erhält er gemeinsam mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy den ersten Friedensnobelpreis. Dunant rührt das Preisgeld nicht an. Verbittert und von Depressionen geplagt stirbt der große Menschenfreund im Oktober 1910 in Heiden.