Hat Sex im Christentum tatsächlich immer mit Sünde zu tun?

Bett mit zwei Kissen
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Die Geschichte des Christentums ist vielfach auch eine der Körper- und Lustfeindlichkeit.
Hat Sex im Christentum tatsächlich immer mit Sünde zu tun?
Ist das Verhältnis von Christ*innen wirklich bestimmt von Körper- und Lustfeindlichkeit so, wie es schon seit Jahrhunderten zu sein scheint? Oder ist erotische Liebe eine gute Gabe Gottes?

Wir erinnern uns: Adam und Eva im Paradies. Sie leben zufrieden und nichtsahnend vor sich hin wie man im Paradies so lebt und denken sich nichts weiter dabei. Spaziergänge unter blühenden Bäumen, Picknick im Grünen, alles gesittet und in völliger Unschuld, denn sie bemerken gar nicht, dass sie nackt sind. Und genascht wird weder vom Baum der Erkenntnis noch voneinander. Bis die Schlange kommt und in Eva die Neugier nach mehr weckt. Adam und Eva beißen in die Frucht, die ihnen gottgleiche Erkenntnisfähigkeit verspricht. Und plötzlich schnappen sie sich Feigenblätter, denn das erste, was sie erkennen, ist, dass sie nackt sind. Ob sie auch erkannten, wie passend sie füreinander erschaffen wurden und ob sie nach dem Verzehr der verbotenen Frucht auch voneinander kosteten ist nicht bekannt. Denn davon, was sie taten bis "der Tag kühl geworden war" (1 Mose 3,8) und Gott seinen Abendspaziergang durchs Paradies begann, schweigt die Erzählung.

Als Gott dann jedoch nach Adam ruft, packt den die Scham, er verschwindet mitsamt Feigenblättern und Frau im Gebüsch und antwortet: "Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum verstecke ich mich." (1 Mose 3,10) Gott jedoch ist nicht etwa besorgt darum, was die beiden wohl mit ihrer Nacktheit angefangen haben. Nein, darum geht es ihm nicht. Er fragt vielmehr: "Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?" (1 Mose 3,11f) Nicht, dass die beiden nackt sind, ist das Neue. Das wusste Gott ja schon, schließlich hatte er sie so erschaffen. Nicht das ist der Grund für den folgenden Rausschmiss aus dem Paradies. Die beiden haben gegen Gottes ausdrückliches Verbot vom Baum der Erkenntnis gegessen und können sich selbst und ihr Handeln nun bewusst wahrnehmen. Sie wissen nun, was richtig und falsch ist und können Gut und Böse, sich selbst und das Gegenüber unterscheiden. Dass sie sich mit ihrem Verlangen nach gottgleicher Erkenntnisfähigkeit gegen Gottes ausdrückliche Warnung gestellt haben, das ist ihre "Schuld", mit der sie sich quasi selbst aus dem Paradies ausschließen. Denn nun kann nichts mehr so sein wie vorher. Mit Sex hat das ganze aus Gottes Perspektive also offensichtlich kaum zu tun.

Dennoch: Genau wie Adam und Eva selbst ihre sexuelle Identität erkennen und Scham über ihre Nacktheit empfinden, setzten Bibelinterpreten über Jahrhunderte hinweg Sexualität in unmittelbar Verbindung zur Sünde. Auf die Spitze trieb diesen Gedanken der Kirchenvater Augustinus (354 -430) mit seiner ausgeklügelten Erbsündenlehre. Unter dem Einfluss leibfeindlicher Strömungen seiner Zeit entwickelte der zunächst selbst nicht gerade zurückhaltend lebende Kirchenvater im Laufe der Zeit eine starke Abneigung gegen Körperlichkeit und Sexualität. Seine Theorie: Erst mit dem Sündenfall habe das Vergnügen an der Lust die höhere Vernunft, den Willen und die Tugendhaftigkeit der Menschen quasi überrumpelt. Da Sexualität und Zeugung von nun an immer mit der vermeintlich sündhaften Lust verbunden gewesen seien, werde die Sünde beim Zeugungsakt unvermeidbar auf die Nachkommen übertragen. Dass es in der Geschichte vom Sündenfall eigentlich nur am Rande um die Sexualität ging und dass Liebe und Lust zu Gottes Schöpfung gehören und damit als wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens gewollt und für gut befunden worden seien – das konnte Augustinus so nicht sehen.

Körper- und Lustfeindlichkeit bestimmten über Jahrhunderte hinweg und bis in die heutige Zeit hinein das Verhältnis der Christen zu ihrer Sexualität. Dabei wird übersehen, dass der Bibel solch körperfeindliche Vorstellungen oder eine Trennung zwischen Körper und Seele völlig fremd ist. Gott hat die Menschen als Ganzes nach seinem Ebenbild geschaffen und ihnen sogar aufgetragen: "Seid fruchtbar und mehret euch" (1 Mose 1,28), und er "sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut." (1 Mose 1, 31) In der Bibel gibt es sogar ein ganzes Buch – das Hohelied Salomos, eine Sammlung von Liebesliedern, die ein Paar aneinander richtet – in dem in wunderschönen poetischen Bildern die Freude an der erotischen Liebe zum Ausdruck gebracht wird. Keine Spur von Scham oder Schuldbewusstsein. Das Paar erfreut sich einfach seiner Liebe und der körperlichen Nähe.

Auch die Geschichte von Adam und Eva möchte Sexualität nicht mies machen. Dass sich Menschen auch körperlich zueinander hingezogen fühlen, ist mit der Schöpfung gegeben. Es geht weder um ein Ausklammern der Sexualität aus dem Leben noch um die reine Triebbefriedigung und die Suche nach immer neuen unverbindlichen Abenteuern. Liebe in Verantwortung und Bewusstheit für sich selbst und das Gegenüber ermöglicht Erfahrungen, die über das eigene Ich hinausgehen. Erotische Liebe ist also nichts, was Gottes Willen entgegensteht. Geschieht sie in beiderseitigem Einverständnis, ist sie keine Sünde, sondern Begegnung. Und lässt die tiefe Bedeutung einer neutestamentlichen Aussage erahnen: "Gott ist Liebe" (1 Johannes 4,16).