Mit der "Kirche der Stille" gelangt Spiritualität in den Alltag

"Kirche der Stille" in Hamburg
Foto: Mechthild Klein
Ein Rückzugsort für viele: aus der Christopheruskirche in Hamburg-Altona wurde ein Ort der Meditation.
Mit der "Kirche der Stille" gelangt Spiritualität in den Alltag
Die neugotische Christopheruskirche in Hamburg stand vor dem Aus. Pastorin Irmgard Nauck machte aus dem kleinen Gotteshaus vor zehn Jahren einen Ort für Meditation. Seitdem hat die "Kirche der Stille" wieder Zulauf und auch Kirchenferne und Atheisten als Besucher.

In dieser Kirche wird Gebetspraxis und Meditation gelehrt. Vor zehn Jahren ließ Pastorin Irmgard Nauck dafür das Innere der kleinen Kirche entkernen. Sitzbänke, Altar, Kanzel und Taufbecken – alles ist einem weiten offenen Raum gewichen. Auf dem beheizbaren Holzfußboden liegen jetzt in der Mitte kreisförmig angeordnet gelbe Meditationskissen und Bänkchen auf blauen Matten. Besucher können in der Kirche sieben verschiedene Wege in die Stille kennenlernen. Doch zuvor müssen alle Besucher ihre Schuhe und Mäntel ablegen.

"Vermutlich sind wir die einzige evangelisch-lutherische Kirche, wo man die Schuhe auszieht, wenn man rein kommt", sagt die Pastorin. Sie möchte an die biblische Geschichte mit dem brennenden Dornbusch erinnern. Als Mose eine Gottesbegegnung hat und er aufgefordert wird, die Schuhe auszuziehen. Denn der Boden auf dem er stehe, sei heilig. Das gilt auch in der Kirche der Stille. Im Vorraum können Besucher persönliche Gegenstände in einem Schließfach deponieren. Dann geht man auf Socken in den leeren Kirchenraum. Das neugotische Gewölbe ist weiß angemalt und völlig schmucklos. Die hohen Bogenfenster sind mit weißen Tüchern verhängt. Nichts soll hier ablenken vom Blick nach Innen.

Jeden Wochentag, morgens oder abends stehen Meditationen zur Auswahl. Das christliche Herzensgebet, Kontemplation, Zen-Meditation oder moderne dynamische Körpergebete. Dafür zahlen die Besucher zwischen acht und zwölf Euro. Dienstagmorgens zum Beispiel lädt die Kirche der Stille zu einer neuartigen Sufi-Meditation mit Musik ein. Der Architekt Joachim Reinig leitet die körperbetonte Meditation an. Das Eintrittsgeld fließt der Kirche der Stille zu.

Zu Gast sind an diesem Morgen zehn Besucher. Viele üben schon seit Jahren diese Meditation der vier Himmelsrichtungen mit der Sufi-Drehung. Ein aus Marokko stammender Psychologe Jabrane Sebnat hatte die Meditation entwickelt. Schweigend betreten die Besucher den leeren Kirchenraum. Eine Kerze brennt vor einer Marienikone. An den Zeiten steht ein schlichtes zusammengebundenes Holzkreuz auf einem Ständer und eine Bibel ruht auf einem Lesepult.

Pastorin Irmgard Nauck glaubt, dass viele Menschen spirituelle Alltagspraxis suchen.

Alle Teilnehmer stellen sich zur Meditation auf. Aus den Lautsprechern erklingt eine ruhige nordafrikanische Meditationsmusik mit Handtrommeln. Dann beginnen alle Teilnehmer synchron mit den gleichen Bewegungen. In Rhythmus des Atems heben sie Füße und Arme. Nach und nach wenden sie sich allen Himmelsrichtungen zu. Am Ende üben alle die berühmte Sufi-Drehung um die eigenen Achse. Den rechten Arm nach oben gerichtet, den linken nach unten, minutenlang drehend, jeder für sich. Neun verschiedene Übungen gibt es – die Bewegungsphase wird mit einer Meditation in Stille abgeschlossen. Joachim Reinig erläutert, wie die Meditation funktioniert. Wie bei allen geistlichen Fokussierungen soll man seine Gedanken ziehen lassen. Man konzentriert sich auf den Atem, die gleichförmigen Bewegungen.

Donnerstagabends können die Teilnehmer gemeinsam in Stille sitzen. Dann nämlich leitet Pastorin Irmgard Nauck zum Herzensgebet an. Diese Meditation stammt aus der Tradition der Ostkirche. Auch dort übt man den Geist zu fokussieren, nur eben still auf dem Kissen die Augen geschlossen. Jeder wiederholt innerlich seinen persönlichen biblischen Satz oder ein Wort wie zum Beispiel "Schalom" oder "Ich bin da" und verbindet das anfangs mit dem Atem. In der Mitte der Kirche sitzen dafür alle im Kreis auf den Meditationskissen. Aufgelockert wird die Übung durch eine kurze Gehmeditation zwischen den Sitzphasen.

Pastorin Irmgard Nauck spricht über ihre Aufgabe als Seelsorgerin.

Irmgard Nauck betont, dass der Weg in die Stille eine Meditations- und Gebetspraxis sei, die alle Religionen kennen. Über die Sprache der Mystik suche man Gott und Gottesbegegnung im eigenen Inneren, in der Stille. Man müsse erst einmal zu sich selbst kommen. Die Hamburgerin war nach 25 Jahren als Gemeindepastorin davon überzeugt, dass Gottesdienste "zu wortlastig, zu überfrachtet" seien. Daher müsse es auch Wege geben, die mehr das Sitzen im Schweigen und Körpererfahrung anbieten. Die Praxis zeige ihr, dass spirituelle Erfahrungen immer auch Körpererfahrungen seien. Wer die Präsenz im Körper einübe, könne die Präsenz Gottes in sich erfahren, sagt sie.

Die Kirche der Stille funktioniert tatsächlich wie ein Rückzugsort inmitten der hektischen, schnellen Welt in der Stadt sein. Hier in der Stille können Besucher inne halten und wieder Kontakt zu sich selbst bekommen. Wochentags von 12 bis 18 Uhr ist die Tür auch für Gäste geöffnet, die außerhalb des Programms zur Meditation kommen wollen.

Irmgard Nauck ist die Pastorin der "Kirche der Stille" in Hamburg.

Durch die verschiedenen Übungswege morgens oder abends können die Besucher lernen, sich selbst zu spüren. "Und darum hängt Leib für mich ganz eng zusammen mit Gotteserfahrung", sagt Nauck. "Darum bin ich ganz überzeugt, dass wir den Körper mehr ins Zentrum nehmen als in anderen Kirchen." Der Meditationsweg sei ein gleichberechtigter Weg der Kirche ins 21. Jahrhundert. Den Menschen gehe es um spirituelle Erfahrung, nicht um Belehrung.