TV-Tipp: "Charité" (ARD)

Alter Fernseher vor gelber Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Charité" (ARD)
19.2., ARD, 20.15 Uhr
Dieser Erfolg hat sogar die ARD selbst verblüfft: Mit im Schnitt knapp 7,5 Millionen Zuschauern war die Serie "Charité" die vielleicht größte positive Überraschung des Jahres 2017. Die Verknüpfung persönlicher Schicksale mit der Geschichte der Medizin hat offenbar auf viele Menschen eine ganz besondere Faszination ausgeübt.
Die erste Staffel spielte im späten 19. Jahrhundert, die zweite beschäftigt sich mit einer ganz anderen Epoche, historisch nicht minder reizvoll, politisch allerdings ungleich düsterer: Die Handlung setzt mitten im Zweiten Weltkrieg ein. Das dramaturgische Konzept der erfahrenen Drehbuchautorin Dorothee Schön stellt erneut eine junge Frau in den Mittelpunkt. Während die Heldin der ersten Staffel, eine Krankenschwester, nur davon träumen konnte, Ärztin zu werden, steht Medizinstudentin Anni (Mala Emde) kurz vor dem Abschluss. Die hochschwangere junge Frau ist überzeugte Anhängerin der nationalsozialistischen Rassenlehre. Ihr Mann (Artjom Gilz), ein Kinderarzt, führt gar Versuche an "genetisch ungeeigneten Subjekten", sprich: behinderten Kindern durch. Annis Haltung ändert sich, als ihr Baby nach der Geburt eine Schädelschwellung aufweist. Mit einem "Wasserkopf" wäre das Kind eine sogenannte Ballastexistenz; ein Todesurteil. 
Dank dieser dramatischen Zuspitzung kann Grimme-Preisträgerin Schön ("Frau Böhm sagt nein"), die die Drehbücher wieder gemeinsam mit der Ärztin und Medizinjournalistin Sabine Thor-Wiedemann geschrieben hat, ein Manko der ersten Staffel vermeiden. Dort hatten die weiblichen Hauptfiguren trotz ausgezeichneter Besetzung (Alicia von Rittberg, Emilia Schüle) bei weitem nicht genug Kraft entwickelt, um ein angemessenes dramaturgisches Gegengewicht zu den berühmten Männern bilden zu können; sie wirkten wie attraktives Beiwerk. Das ist in der zweiten Staffel viel besser gelöst, selbst wenn es mit Ferdinand Sauerbruch, einem der bedeutendsten Chirurgen des 20. Jahrhunderts, auch diesmal eine überlebensgroße Figur gibt. Weil Ulrich Noethen diese mitunter etwas cholerische Koryphäe aber sehr lebensnah, leutselig und vor allem witzig verkörpert, ist Sauerbruch ungleich greifbarer als die Kollegen aus der ersten Staffel. Seine Scherze über die Nationalsozialisten und sein Engagement für Verfolgte des Nazi-Regimes machen ihn ohnehin zum Sympathieträger. Gegenentwurf zum Star-Chirurgen ist Max de Crinis (Lukas Miko). Der Leiter der Psychiatrie ist oberster beratender Heerespsychiater und selbstverständlich ein Befürworter der Rassenhygiene. Der Mann ist im Grunde ein Monster und kennt keine Gnade, wenn er bei verletzten Soldaten Wehrkraftzersetzung durch Selbstverstümmelung wittert. Dies ist auch das Thema von Annis Doktorarbeit; de Crinis ist ihr Doktorvater. Dank der personellen Konstellation gelingt es Schön und Thor-Wiedemann, die private Ebene schlüssig mit den Rahmenbedingungen zu verknüpfen, selbst wenn die Erzählweise mitunter etwas episodisch wirkt.
 
Anders als die differenziert konzipierten Hauptfiguren, die eine gute Mischung aus historischen und erfundenen Charakteren bilden, sind einige Nebenrollen etwas klischeehaft geraten; uniformierte Nationalsozialisten bewegen sich in Produktionen dieser Art ohnehin leicht am Rand zur Karikatur. Außerdem legt Jannik Schümann als Annis Bruder, der sich schließlich trotz drohender Kastration oder Konzentrationslager zu seiner Homosexualität bekannt, mitunter etwas viel Eifer an den Tag. Anno Saul inszeniert überdies einige Male mit Ausrufezeichen, wo subtile Andeutungen den gleichen Effekt erzielt hätten. Andererseits sorgt er im Unterschied zu Sönke Wortmann, dem Regisseur der ersten Staffel, für eine große Handlungsdichte; Wortmanns mit unmotivierte Zeitlupensequenzen durchsetzter Stil entsprach streckenweise allzu sehr der typischen Biederkeit vieler öffentlich-rechtlicher Historienproduktionen. Saul hat allerdings auch den Vorteil, dass seine Hauptfigur einen allmählichen Sinneswandel durchläuft. Mala Emde, 2015 durch die Titelrolle in Raymond Leys Dokudrama "Meine Tochter Anne Frank" bekannt geworden, verkörpert die Studentin vom ersten Moment an als Identifikationsfigur; ein cleverer Schachzug, weil sich die Zuschauer zwangsläufig mit Annis anfänglicher Haltung auseinandersetzen müssen. Sie repräsentiert auf diese Weise den ganzen Widerspruch der Medizin im "Dritten Reich": Die Ärzte hatten allesamt den hippokratischen Eid geschworen, aber viele folgten dennoch einer Ideologie, die das Volkswohl über das Wohl des einzelnen Patienten stellte. Für dieses ethische Dilemma steht nicht zuletzt Sauerbruch selbst: Der Idealist will nicht glauben, dass Kollegen sogenanntes unwertes Leben beenden. Auch darin liegt ein Reiz der Serie, die sich mit einer bislang nur selten verfilmten Facette des Nationalsozialismus’ befasst.
 
Davon abgesehen ist "Charité" handwerklich eindrucksvoll. Der Aufwand ist sichtbar groß, die Bildgestaltung (erneut Holly Fink) vorzüglich, das Ensemble gut zusammengestellt; besondere Rollen spielen unter anderem Hans Löw als strafversetzter Chirurg aus Straßburg sowie Luise Wolfram als Sauerbruchs Ehefrau, ebenfalls Ärztin, die ihrem Mann als einzige die Stirn bietet. Kurze dokumentarische Sequenzen sorgen für Zeitkolorit; anfangs in Form von Straßenszenen, später zunehmend in Gestalt feindlicher Bomber, die sorgen, dass sich die Handlung mehr und mehr in den Keller der Klinik verlagert. Quasi als Gäste schauen zwischendurch immer wieder mal historische Figuren vorbei, darunter neben Claus Schenk Graf von Stauffenberg auch Magda Goebbels als Annis Bettnachbarin. Die zynische Frau Reichsminister tut sich durch einige böse Scherze Witze über ihren Mann hervor, die bei Normalsterblichen die Todesstrafe nach sich gezogen hätten; die Serie ist ohnehin immer wieder überraschend witzig. Die ARD beginnt die Ausstrahlung mit einer Doppelfolge. Im Anschluss (21.45 Uhr) folgt die Dokumentation "Die Charité - Medizin unterm Hakenkreuz".