TV-Tipp: "Tatort: Wir kriegen euch alle" (ARD)

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TV-Tipp: "Tatort: Wir kriegen euch alle" (ARD)
2.12., ARD, 20.15 Uhr
"Nicht schon wieder", wird manch' ein Zuschauer stöhnen, wenn Sentas Augen blau aufleuchten und sie dann auch noch zu sprechen beginnt; nach der künstlichen Intelligenz im letzten "Tatort" ("KI") müssen sich Leitmayr und Batic (Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec) nun womöglich mit einer Mörderpuppe 'rumplagen. Doch der Schein trügt, selbst wenn die ausgezeichnete Musik von Jessica de Rooij einige Horrorfilmakzente setzt.

Senta ist bloß Mittel zum Zweck. Aus Sicht der fantasiebegabten Kinder mag die Puppe ein Eigenleben führen, aber in Wirklichkeit ist sie ein Spion im Kinderzimmer, und auf diese Weise ist "Wir kriegen euch alle" in gewisser Weise doch noch ein Film zum digitalen Zeitalter: Der amerikanische Spielzeughersteller Mattel hat schon vor Jahren eine mit Mikro, Lautsprecher und Wlan ausgestattete "Hello Barbie"-Puppe auf den Markt gebracht. Die Gespräche im Kinderzimmer werden aufgezeichnet und analysiert, damit die Puppe mit den Kindern individuell kommunizieren kann. Mattel hat für die Erfindung 2015 verdientermaßen den "Big Brother"-Award bekommen. In Europa, hieß es damals, werde dieses Spielzeug aus Datenschutzgründen allerdings gar nicht erst auf den Markt kommen. Beschaffen kann man es sich natürlich trotzdem, und das ist die Basis für die Geschichte: Für Eltern ist Senta eine Puppe wie jede andere, für die Kinder wird sie zur besten Freundin. Sie vertrauen ihr Geheimnisse an, die sie einem Erwachsenen nie erzählen würden; zum Beispiel, dass der Vater abends oft zu ihnen ins Bett kommt und Sachen macht, die ihnen nicht gefallen. Ausgerechnet der Weihnachtsmann will dafür sorgen, dass diese Väter – und die schweigenden Mütter gleich mit – für ihre Taten bestraft werden. Deshalb hat er bei den Leichen eines hingerichteten Ehepaars zwei blutige Botschaften hinterlassen: "25-II" bei der Frau, ein Hinweis auf den Paragrafen zur Mittäterschaft im Strafgesetzbuch, und "Wir kriegen euch alle!" beim grausam verstümmelten Mann.

Die Drehbuchidee mit der Smartpuppe ist brillant, weil sie der Handlung eine reizvolle Vielschichtigkeit verleiht. Das Spielzeug ist in Deutschland verboten, weil es keinen nennenswerten Schutz vor Hackern bietet. Natürlich kann auch die Polizei einen Lauschangriff aufs Kinderzimmer starten, was zur Folge hat, dass Leitmayr ausrastet, als er Ohrenzeuge eines Missbrauchs wird. Am Ende setzt das Drehbuch von Michael Comtesse und Michael Proehl mit Sentas Hilfe zudem eine gleichermaßen grimmige wie makabre Schlusspointe. Trotzdem ist "Wir kriegen euch alle!" alles andere als eine Komödie, selbst wenn Batic zwischendurch auf äußerst skurrile Weise das Smartphone abhanden kommt und sich die Autoren auch den Kalauer über die phonetische Verwandtschaft von Senta und Santa (Claus) nicht entgehen lassen. Die Thriller-Musik lässt ohnehin von Beginn an keinen Zweifel daran, dass der "Tatort" vor allem spannend sein will.

Comtesse und Proehl haben schon bei "Schwarzach 23 und die Hand des Todes" (2015)  zusammengearbeitet und waren an diversen vorzüglichen Filmen beteiligt: der eine unter anderem an "Dein Name sei Harbinger" (2017), einem sehr guten "Tatort" aus Berlin, der andere an vielen Filmen von Regisseur Florian Schwarz, darunter das "Cybergrooming"-Drama "Das weiße Kaninchen" (2016) oder der formidable Shakespeare-"Tatort" mit Urich Tukur, "Im Schmerz geboren"; Proehl hat dafür 2015 den Grimme-Preis bekommen. Regie führte diesmal jedoch Sven Bohse. "Wir kriegen euch alle" ist nicht sein erster Krimi; neben "Ostfriesenkiller" (ZDF 2017) hat er bereits einen ausgezeichneten "Tatort" aus Kiel gedreht, "Borowski und das Land zwischen den Meeren" (2018). Bekannt geworden ist er allerdings durch den ZDF-Dreiteiler "Ku'damm 56". Zuvor hatte er sein Talent mit zwei sehenswerten Freitagskomödien für die ARD-Tochter Degeto bewiesen, "Weihnachten für Einsteiger" (2014) und "Mein Schwiegervater, der Stinkstiefel" (2015). Der "Tatort" aus München ist natürlich von völlig anderem Zuschnitt, zumal Bohse für viel Nervenkitzel sorgt.

Auch die Bildgestaltung ist interessant, denn Kameramann Michael Schreitel, mit dem der Regisseur schon oft zusammengearbeitet hat, verleiht den Bildern eine ganz spezielle Atmosphäre. Der Film ist zwar im Sommer gedreht worden, aber viele Aufnahmen haben einen leichten Grünstich und wirken daher etwas ungemütlich. Das gilt vor allem für die Szenen im Präsidium; der Vernehmungsraum zum Beispiel ist in düstere Farben getaucht. Äußerst intensiv ist auch die Nacht, die der Hauptverdächtige in der Zelle verbringen muss: Er leidet unter Klaustrophobie und hört Stimmen; die Farbgebung wechselt von tiefblau zu blutrot. Gespielt wird der Mann von Leonard Carow. Der mit mehren Nachwuchspreisen ausgezeichnete Schauspieler verkörpert seit Jahren regelmäßig und immer wieder glaubwürdig  Jugendliche, die aus der Spur geraten sind. Der junge Hasko ist Mitglied einer Selbsthilfegruppe, die sich Missbrauchsüberlebende nennt. Weil die Polizisten überzeugt sind, hier auch den als Weihnachtsmann verkleideten Täter zu finden, mischt sich Batic unter die Teilnehmer. Mit ihrem Verdacht gegen Hasko liegen die Kommissare jedoch nur halb richtig. Die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung, als sich rausstellt: Der junge Mann ist ein ähnliches Mittel zum Zweck wie die Puppe Senta.