TV-Tipp: "Kommissarin Lucas: Das Urteil" (ZDF)

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TV-Tipp: "Kommissarin Lucas: Das Urteil" (ZDF)
1.9., ZDF, 20.15 Uhr
Wie raffiniert die Geschichte dieses Films ist, zeigt sich erst im Nachhinein. Zunächst ist "Das Urteil" ein Krimi wie andere auch.

Beim Tanzen rückt ein Mann einer jungen Frau zu nah auf die Pelle, ein anderer greift beschützend ein; am nächsten Tag ist die Frau tot. Ein Jahr später gelingt dem zwischenzeitlich als Vergewaltiger und Mörder verurteilten Mann die Flucht. Er entführt Kommissarin Ellen Lucas (Ulrike Kriener), die damals die Ermittlungen geleitet und vor Gericht gegen ihn ausgesagt hat. Sie soll den Fall neu aufrollen und seine Unschuld beweisen.

Der Reiz des Films besteht zunächst in der Kombination von Gegenwartszenen und Rückblenden, die den Ablauf aus Sicht der Kommissarin schildern. Damals hat nichts auf eine mögliche Unschuld des Mannes hingedeutet, im Gegenteil, und die Bilder scheinen dies zu bestätigen. Der Filmtitel bezieht sich daher auch auf die Haltung des Zuschauers, denn die geschickte Konstruktion von Buch (Peter Probst) und Regie (Nils Willsbrandt) lässt keinen Zweifel zu: Während einer Feier im psychologischen Institut der Universität Regensburg hat Dozent Stach (Florian Teichtmeister) die Studentin ermordet. Nach einem tätlichen Angriff gegen Lucas während der Vernehmung gab es für die Kommissarin ohnehin keinen Grund, an seiner Schuld zu zweifeln; sie hielt den Mann für einen Frauenverächter, der "offenbar Probleme mit seiner Impulskontrolle" habe. Aber nun beginnt sie, die belastenden Umstände zu hinterfragen, allen voran die Aussage der jungen Hauptbelastungszeugin (Lena Kalisch), die drei Monate nach der Tat detaillierte Beobachtungen schilderte, obwohl sie zunächst nichts Brauchbares zur Aufklärung beisteuern konnte. Und so entwickelt diese Geschichte, die anfangs wie ein gewöhnlicher Krimi wirkt, nach und nach eine eigene Faszination, weil es letztlich darum geht, wie sich das Gedächtnis eines Menschen manipulieren lässt.

Handwerklich ist "Das Urteil" ohnehin gelungen. Interessant ist schon allein die Farbgebung der zwielichtigen Rückblenden, mal grauschwarz, mal blauschwarz, aber konsequent um jeden potenziell lebensfrohen Farbtupfer bereinigt. Zwischendurch schmückt Kameramann Jens Harant den Film zudem mit eindrucksvollen herbstlichen Nebelbildern von der Donau. Die große Stärke liegt jedoch in der ausnahmslos vorzüglichen Führung der Schauspieler. Gerade die als Ellen Lucas stets eher unterkühlt agierende Ulrike Kriener vermittelt auf subtile Weise, wie die unumstößliche Haltung der Kommissarin erste Risse bekommt, als Stach sie entführt und am Schauplatz des einstigen Geschehens von seiner Unschuld überzeugen will. Willbrandt verzichtet darauf, diese Szene mit vordergründiger Spannung aufzuladen; ihre Intensität entsteht als Folge des schauspielerischen Kräftemessens. Spätestens jetzt erweist sich auch die Besetzung des Gegenspielers als ausgezeichnete Wahl, zumal der Wiener Florian Teichtmeister, den ZDF-Zuschauern durch seine Rolle als Rollstuhlkommissar in der Krimireihe "Die Toten von Salzburg" bekannt, nicht zur Riege der üblichen Verdächtigendarsteller zählt. Er hat einen großen Anteil daran, dass beim Publikum ebenfalls erst dann Zweifel an Stachs Schuld aufkommen, als auch Lucas’ Überzeugung zu bröckeln beginnt. Dass andererseits regelmäßig Stachs unterdrückter Zorn durch, lässt ihn doch wieder zum potenziellen Täter werden. Clever ist auch die Idee, Teichtmeister Harald Schrott zur Seite zu stellen. Er spielt einen weiteren Angehörigen des Instituts und zieht als Schurkendarsteller prompt die Verdachtsmomente auf sich.

Autor Probst hat zwar dafür gesorgt, dass die Geschichte dank verschiedener Nebenschauplätze eine gewisse Komplexität erhält, aber sehenswert ist "Das Urteil" vor allem wegen des Komplotts, dem die Kommissarin schließlich auf die Spur kommt. Dessen Raffinesse lässt auch die eine oder andere Ungereimtheit verschmerzen. So erscheint zum Beispiel Lucas’ Team (Lasse Myhr, Jördis Richter) nach der Entführung der Chefin überraschend schnell am Schauplatz der Ereignisse. Auf ähnlich wundersame Weise weiß Stach, wo die Polizei seine Frau und seine Tochter versteckt hat. Aber das sind bloß kleine Logiklöcher, über die Kriener und Teichtmeister den Film locker hinweg tragen. Abgesehen davon haben Krimis, in denen die Ermittler eigene alte Fälle neu aufrollen, weil sie erkennen, dass sie damals womöglich einen Fehler gemacht haben, dank der doppelten Ebene ohnehin einen ganz eigenen Reiz; vor allem, wenn sich die Handlung wie in diesem Fall in eine völlig andere Richtung entwickelt.