Schlagabtausch am "Mekka des Judentums"

Foto: epd/Debbie Hill
Schlagabtausch am "Mekka des Judentums"
Frauen der Klagemauer kämpfen für Rechte der liberalen Juden
Seit Jahrzehnten fordern liberale Jüdinnen einen Ort an der Klagemauer für das gemeinsame Gebet von Männern und Frauen - für Ultraorthodoxe ein Graus. Zudem wollen sie wie die Männer die Thora zum Heiligtum bringen. Jetzt spitzt sich der Streit zu.

"Reformisten geht nach Hause", ruft ein aufgebrachter junger Mann im schwarzen Anzug und Kippa. Zur gleichen Zeit setzt sich eine Gruppe von Frauen mit lautem Gesang gegen die Beschimpfungen ihrer ultraorthodoxen Glaubensbrüder zur Wehr. Die Frauen bewegen sich im Rhythmus ihrer Lieder rings um eine Thorarolle, manche halten die Augen geschlossen: Einmal im Monat verwandelt sich der Platz vor Jerusalems Klagemauer in eine Arena für den verbalen Schlagabtausch zwischen ultraorthodoxen Juden und den Frauen der Klagemauer, die unterstützt werden von liberalen und konservativen Juden.

Während das ultraorthodoxe Establishment an den Traditionen und der strengen Auslegung der frommen jüdischen Regeln festhält, kämpfen die jüdischen Reformisten und auch die Konservativen darum, ihrem Glauben auf individuellerem Weg Ausdruck geben zu dürfen. Die Frauen der Klagemauer sind federführend bei diesem Kampf, den sie stellvertretend auch für die mehrheitlich liberalen Juden in der Diaspora ausfechten. Den Ultraorthodoxen in Israel sind sie ein Dorn im Auge, weil sie das tun, was traditionell nur jüdische Männer dürfen: Sie tragen die Kippa, die Kopfbedeckung frommer Juden, manche binden sich sogar die jüdischen Gebetsriemen um Arme und Kopf.

Schimpfwort: "Amaletiker"

Seit 27 Jahren schon kommen die feministischen Jüdinnen jeweils am ersten Tag jedes jüdischen Monats. Auch ihre Lieder stören die orthodoxen Männer. Laut strenger Halacha, dem jüdischen Recht, ist es ihnen verboten, dem Gesang weiblicher Stimmen zu lauschen. Ganz besonders erzürnt sie jedoch, dass die Frauen die Thora tragen, und dass sie gemischte Gebete zusammen mit liberalen Juden abhalten. "Amalekiter", ruft ein junger  Ultraorthodoxer, in Anspielung an das biblische Volk, das mit den Hebräern verfeindet war.

Laut dem Altem Testament überwarf sich König David mit Gott, weil er seiner Anordnung zum Trotz, das Volk samt der Tiere auszurotten, den König und das Vieh der Amalekiter verschont. Für einen orthodoxen Juden ist Amalekiter eines der schlimmsten Schimpfwörter.

Um die Querelen an der Klagemauer ein für allemal beizulegen, entschied sich die Regierung Ende Januar für eine Teilung des Bereichs unmittelbar vor der Klagemauer. Ultraorthodoxe Männer und Frauen sollten danach weiter ungestört nach Geschlechtern getrennt und der frommen Tradition entsprechend im nördlichen Abschnitt beten. Für die liberalen Frauen der Klagemauer und ihre männlichen Mitstreiter sollte fortan der südliche Abschnitt hergerichtet werden.

"Nichts ist seit der Regierungsentscheidung passiert", schimpft Lesley Sachs, Vorsitzende der Frauen der Klagemauer. "Die Regierung hält uns hin." Auf frischer Tat hatte die Polizei Sachs dabei ertappt, als sie vor zwei Wochen samt Thorarolle zur Klagemauer wollte. "Das Lesen aus der Thora ist ein integraler Bestandteil unseres Gebets zum Monatsanfang", sagt die lebhafte Endfünfzigerin und empört sich: "Ich bin keine Kriminelle."

Immer neue Tricks

Laut Rechtspruch sei sie befugt, die Thora sogar in der ultraorthodoxen Frauensektion zu lesen. Problematisch ist nur, dass Rabbi Shmuel Rabinovitch, staatlicher Beauftragter für das gesamte Areal der Klagemauer, die liberalen Jüdinnen noch vor Erreichen der Mauer abfängt. "Wir dürfen die Thora lesen, aber sie nicht mit reinbringen", klagt Sachs. Die Frauen müssten sich deshalb immer neue Tricks einfallen lassen, um das heilige Buch zum Gebetsplatz zu schmuggeln. Immer gelingt ihnen das nicht.

Dass die Regierung die Umsetzung des Beschlusses verzögert, geht auf den Protest vor allem der orientalisch-orthodoxen Wähler zurück und den Rückzieher der orthodoxen Schas-Partei, die nun mit dem Austritt aus der Regierungskoalition droht. "Die Regierung hat nicht das Recht, über gemischte Gebete vor der Klagemauer zu entscheiden", fasst Jerusalems orientalischer Oberrabbiner Shlomo Amar den Zorn vieler Ultraorthodoxer zusammen.

Amar zog mit einer Gruppe streng gläubiger Frauen und Männer auf den für die liberalen Juden vorgesehenen Gebetsplatz und spannte demonstrativ ein Tuch zur Trennung der Geschlechter auf. "Er wollte uns zeigen, wem das Areal eigentlich noch immer gehört", erklärt Sachs. "Es spitzt sich zu", sagt sie und drängt die Regierung, ihr Versprechen zu halten: Eine physische Trennung zwischen den Ultraorthodoxen und den "Pluralisten" und eine klare Festlegung der Zuständigkeiten. Die Klagemauer sei "das Herz des Herzens", schwärmt Sachs, "das Mekka des Judentums".