Ich brauche nichts zu sagen - jetzt noch nicht

Symbolfoto mit Zeitungsausschnitten
Illustration: evangelisch.de/Simone Sass
Ich brauche nichts zu sagen - jetzt noch nicht
Zum Terroranschlag in Nizza am 14. Juli 2016
Kann man einen Terroranschlag kommentieren? Anne Kampf versucht es mit einem Blick in die redaktionelle Arbeit nach einem Anschlag und mit Gedanken zum Thema Schweigen und Reden.

Schon wieder. In Frankreich, meiner Herzensheimat, im Süden – vor zwei Wochen war ich noch dort. 80 Tote oder mehr, wen interessieren die Zahlen? Jede und jeder von ihnen hinterlässt Eltern, Kinder, Geschwister, Partner, Freunde. Schreckliches Leid – und das am Nationalfeiertag. Sie wollten fröhlich feiern und wurden brutal getötet. Auch wenn Frankreich unser Nachbarland ist, näher als die USA, viel näher als Bagdad oder Kabul: Ich kann es mir nicht vorstellen, wie diese Nacht in Nizza war und wie verzweifelt die Angehörigen jetzt sind. Es wird Monate, Jahre brauchen, bis diese Nacht einigermaßen ins Leben der Überlebenden einsortiert werden kann.

Auf dem Weg in die evangelisch.de-Redaktion fahre ich an diesem Morgen schneller als sonst, schließlich sollen auch wir irgendwie reagieren, auch wenn wir kein tagesaktuelles Nachrichtenmedium sind. Zu Tod und Trauer können wir nicht schweigen. Ich suche im Internet, ob die Kollegen der Rundfunkarbeit den Anschlag schon in ihren heutigen Radioandachten verarbeitet haben – oft sind sie die Schnellsten. Aber so schnell konnten sie dann wohl doch nicht reagieren. Vielleicht waren die Kollegen erleichtert, dass die vorbereiteten Beiträge laufen konnten, dass sie nicht früh um fünf Uhr in die Funkhäuser eilen und den Terror kommentieren mussten. Denn was soll man auch sagen? Schon wieder?

Dann sehe ich, was unsere Fotoredaktion gestern Abend – vor dem Anschlag in Nizza – auf Facebook gepostet hat: eines unserer Shareables (Foto mit Bibelvers) zum Thema Freundschaft. "Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Denn sie waren eins geworden hinzugehen, um ihn zu beklagen und zu trösten." Hiob 2,11. Ein Vers zum Thema Klage und Trost! Gibt es Zufälle? Die Hiob-Geschichte geht so weiter: "Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war." (Hiob 2,12-13)

Sie weinten, sie zerrissen, sie warfen, sie saßen, sie redeten nichts – denn sie sahen. Sie lassen ihre Traurigkeit, ihre Verzweiflung, ihre Wut raus. Sie halten mit Hiob aus. Aber sie haben keine Worte. An einem Freitag im April war ich bei einer privaten Trauerfeier in Frankreich und blieb das Wochenende bei der Familie. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber im Laufe der drei Tage wurde mir klar: Ich brauche auch gar nichts zu sagen, jetzt jedenfalls noch nicht. Sie waren einfach froh und dankbar, dass jemand bei ihnen blieb. Es war erstmal wichtig, die Gefühle wahrzunehmen. Passende Worte kommen vielleicht später. 

Auf die Anschläge im November 2015 in Paris hat die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) mit einer Gebetsseite reagiert. Die habe ich heute Morgen gefunden. Gebete, Psalmen, Worte der Bibel, die die Trauer und den Schmerz und auch die Wut einfangen und ausdrücken.

"Wo warst, du Gott?
Es sind junge Menschen – so junge Menschen.
Sie töten andere junge Menschen.
Einfach so. Wahllos.
Wie kann es sein, dass sowas passiert?
Immer wieder.

Gott, ich verstehe dich nicht.
Abwenden möchte ich mich von dir.
Mich verbergen in meinem Zorn.
So wie du dich verbirgst.
Und doch kann ich nicht anders – ich muss reden.

Reden mit dir.
Damit der Zorn sich nicht in die Seele frisst.
Damit das Herz nicht eng wird und ängstlich.
Damit die Wut nicht zur Rache drängt."

(Pfarrerin Doris Joachim-Storch)

Solche Worte können helfen, jedenfalls emotional. Gebete verbinden diejenigen, die traurig sind und nicht einfach zum Tagwerk übergehen wollen, auch hier im Nachbarland. Gebete können die Toten nicht wieder lebendig machen, aber sie helfen, den Schock abzufedern. Wir sind mit der Verzweiflung und den Fragen nicht allein. Andere weinen mit. Gott auch.