Flüchtlingshilfe, die Hoffnung macht

Mechthild Wagenhoff und die Äthiopierin
Foto: Nina Flauaus
Mechthild Wagenhoff, 65 Jahre alt, kümmerte sich im vergangenen Winter in der Frankfurter Jakobsgemeinde um die junge Äthiopierin im Kirchenasyl.
Flüchtlingshilfe, die Hoffnung macht
Mechthild Wagenhoff und Feven Salit: zwei Frauen unterschiedlicher Generationen und verschiedener Kulturen. Zwischen der jungen Flüchtlingsfrau aus Äthiopien und ihrer ehrenamtlichen Betreuerin hat sich eine besondere Beziehung entwickelt - voller neuer Perspektiven.

Die Nächte waren am schlimmsten. Das riesige Kirchengebäude mit den ungewohnten Geräuschen, vor allem diese wummernden Kirchenglocken - irgendwie bedrohlich in der Dunkelheit. Dann kamen die Erinnerungen an Zuhause, Gedanken an ihre Familie, Heimweh. Auch Angst, und die quälende Sorge, wie es wohl weiter gehen wird. Oft fand Feven [Anm. d. Red.: der Name wurde von der Autorin geändert. Wegen des laufenden Asylverfahrens soll nicht ihr richtiger Name genannt werden] erst in den frühen Morgenstunden Schlaf. Doch fragt man sie heute nach der Zeit im Kirchenasyl, sagt sie sofort: "Es war gut, dort war ich in Sicherheit." Für sie das Wichtigste.

Vier Monate, von Oktober 2015 bis Februar 2016, hat Feven in der Evangelischen Jakobsgemeinde im Frankfurter Stadtteil Bockenheim gelebt. Das Kirchengelände durfte sie nicht verlassen, ihr drohte die Abschiebung. Erst nach dieser Zeit war sie gemäß der Dublin-Verordnung lange genug in Deutschland, um hier einen Asylantrag stellen zu können. Ein Team von 16 Frauen hat Feven während dieser Monate versorgt, mit ihr Deutsch gelernt, Zeit mit ihr verbracht. Mechthild Wagenhoff ist eine davon. Über eine Freundin hatte sie erfahren, dass die Gemeinde einer jungen Äthiopierin Asyl gewähren wollte. "Quasi vor meiner Haustüre - ich wohne auch in Bockenheim. Die Freundin meinte: ‚Du hast doch Zeit, willst du dich da nicht engagieren?‘", erzählt Mechthild Wagenhoff. Und sie wollte. Politisch interessiert beschäftigt sich die 65-Jährige sowieso schon lange mit Fragen um Arm und Reich, Verteilung der Ressourcen, Gründe für Flucht. Sie weigert sich, zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen zu unterscheiden: "Menschen kommen aus Not nach Deutschland. Wenn jemand kurz vorm Verhungern ist, dann ist das Not und da muss man helfen, finde ich."

Wie aus einem anderen Leben

Mechthild und Feven. Zwei Frauen, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnte: Die eine seit kurzem im Ruhestand, umtriebig, voller Energie, hat vierzig Jahre lang als Lehrerin für Mathe und Gesellschaftslehre gearbeitet. Wenn sie spricht, fliegen ihre Hände durch die Luft. Die andere: Mitte zwanzig, ruhig, höflich und zurückhaltend, in Addis Abeba, Äthiopien, aufgewachsen. Feven sagt, sie hat wegen der politischen Unruhen ihre Heimat verlassen. Sie wollte nach Deutschland, weil bereits ihr älterer Bruder und eine Schwester hier leben. Was genau Feven erlebt hat, wie sie nach Europa kam oder wie lange sie unterwegs war, weiß niemand, auch Mechthild nicht: "Ich habe sie nicht gefragt. Die Jakobsgemeinde kenne ich und wenn sie entscheidet, einer jungen Frau Zuflucht zu gewähren, dann habe ich da Vertrauen. Ich kann helfen, ohne alles wissen zu müssen." Wegen des laufenden Asylverfahrens sollen die Details von Fevens Flucht nicht bekannt werden.

Feven ist zierlich und klein, ihre Jeans hat modische Risse an den Knien, die Fingernägel sind in einem Braunton lackiert. Sie trägt ein schwarz-weißes Ringelshirt, ihre Stimme ist leise und die krausen Haare hat sie zu einem Knoten zusammengebunden. Während des Asyls bringen die Frauen aus der Gemeinde Feven Essen, einen Hometrainer, ein Handy, richten ihr einen Computer ein. Sie erstellen einen Zeitplan, kommen regelmäßig und zuverlässig. Auch Mechthild. Sie bringt zum ersten Treffen Fotos von ihren Kindern mit. Auch Feven berichtet von ihrer Familie, von Äthiopien, zeigt am Computer Bilder von Addis Abeba. "Doch am Anfang waren Unterhaltungen fast unmöglich, es fehlten einfach die Worte", sagt Mechthild. "Also habe ich versucht, etwas mit ihr gemeinsam zu machen - Essen zubereiten oder etwas spielen."

Bei Gesprächen hört Feven aufmerksam zu, bemüht sich, alles zu begreifen, es will ihr nicht immer gelingen. Mal sprechen sie und Mechthild ein paar Worte auf Englisch, mal auf Deutsch. Hin und wieder verstehen sie sich nicht auf Anhieb. Doch dann wird immer wieder gelacht, Feven leise und glucksend, Mechthild tief und schallend. Sie lachen, um die Distanz zu brechen, um komische Momente zu überbrücken, eine Beziehung entstehen zu lassen.

Meistens geht Mechthild abends zur Gemeinde: "Ich wusste, dass es Feven gerade dann nicht so gut geht, und so konnte ich ihr die Nacht ein wenig verkürzen." Doch trotz der vielen Besuche fühlt sich Feven isoliert, das eingesperrt sein belastet sie, ist zermürbend. Oft steht sie an den großen Fenstern des Gemeindehauses und beobachtet das Leben vor der Tür, an dem sie nicht teilhaben kann. "Als sie dann endlich rauskonnte, ist eine so große Last von ihr gefallen", erzählt Mechthild. "Sie ist viel lebendiger geworden, lächelt mehr, ist richtig aufgeblüht." Feven nickt. Und lächelt.

Aufeinander zugehen statt wegschauen

Während der ersten Treffen fällt es Mechthild schwer, einzuschätzen, was Feven guttut und was sie möchte. Soll ich darauf los reden? Interessiert sich ein junges Mädchen überhaupt dafür, wovon ich spreche? Möchte sie etwas erzählen, aber ihr fehlen die nötigen Worte? Oder braucht sie einfach nur Gesellschaft, jemanden, der da ist und muss sich gar nicht unbedingt unterhalten? "Solche Momente fand ich fast unerträglich. Diese Stille auszuhalten, da bin ich einfach zu ungeduldig für!", erklärt Mechthild. Nach und nach, je mehr Feven ihre Scheu verliert und ein paar Worte Deutsch lernt, sind diese Situationen nicht mehr so häufig. Heute lachen die beiden darüber.

Feven ist neugierig und wach: "Sie beobachtet sehr genau, was um sie herum geschieht und reflektiert das", sagt Mechthild. Einmal sprechen die beiden über den Umgang mit alten Menschen, vergleichen Deutschland und Äthiopien. Feven meint, dass die Deutschen zu beschäftigt seien, keine Zeit hätten, sich um Alte zu kümmern und sie deshalb in Altenheime brächten. Mechthild sagt: "Ich fand es interessant, das mal so zu hören." Ein anderes Mal tauschen sie sich über Brot, Kuchen und Plätzchen der beiden Länder aus. Nachdem Feven erzählt, dass sie nicht backen kann, treffen sie sich das nächste Mal in der Küche. "Ich habe ihr erklärt, dass es in Deutschland drei verschiedene Kuchen gibt: mit Mürbeteig, Hefeteig oder Rührkuchen", erzählt Mechthild. Dann haben sie Rhabarberkuchen gebacken - für Feven ein ganz neues Geschmackserlebnis.

Nach dem Kirchenasyl wächst ihre Freundschaft

Inzwischen lebt Feven in einer Flüchtlingsunterkunft, geht täglich zum Deutschkurs, das Asylverfahren ist im Gange und bald kann sie in eine kleine Wohnung umziehen. Es war klar: Auch nach Fevens Zeit im Kirchenasyl halten Mechthild und sie Kontakt. Weiterhin treffen sie sich ein-, zweimal in der Woche, gehen ins Kino, kochen und essen gemeinsam. "Sie gibt mir viel Liebe, fast wie eine Mutter", sagt Feven über Mechthild. Ihr Wortschatz reicht nicht, um mehr zu sagen. Sie sagt auch, dass sie in Mechthild jemanden gefunden hat, dem sie vertraut und der ihr fernab ihrer Heimat Rückhalt und Wärme gibt.

Mechthild hat als Lehrerin bislang viele Menschen begleitet. Mit nur wenigen hat sie Kontakt gehalten. Über Feven sagt sie: "Das Mädchen gehört inzwischen zu meinem Leben und ich freue mich jedes Mal, wenn wir uns treffen. Ich hab sie einfach gern und für mich ist diese Verbindung sehr bereichernd." Denn Fevens Schicksal führt ihr einmal mehr vor Augen, welches Glück sie bisher in ihrem Leben hatte: "Dass ich nicht als junge Frau fliehen musste. Dass ich mich nicht in einer völlig fremden Umgebung neu orientieren und meine Liebsten zurücklassen muss. Dafür bin ich sehr dankbar."

Wo der Glaube auf die Kirchenferne trifft

Man merkt: Mechthild ist den Umgang mit jungen Menschen gewöhnt. Ihr liegt etwas an ihnen und daran, dass sie weiterkommen. Deshalb zögert sie nicht lange, als sie in der Zeitung von dem Projekt "Wirtschaft integriert" liest. Fevens Bewerbung für das vierjährige Programm, das Deutschunterricht mit einer Berufsausbildung kombiniert, läuft. Auch für ein Angebot eines Evangelischen Vereins, das ebenfalls auf Berufsorientierung abzielt, hat Feven sich beworben. Nun warten die beiden ungeduldig auf eine Rückmeldung. "Klappt eine der Optionen, würde das ihre Chancen, hier bleiben zu können, sicherlich verbessern", sagt Mechthild und ist zuversichtlich. Doch was passiert, wenn Fevens Antrag auf Asyl nicht stattgegeben wird, sie am Ende abgeschoben wird? Mechthild mag nicht darüber nachdenken. "Wenn Feven Deutschland wirklich verlassen müsste - das wäre hart und würde für mich viel Trauer bedeuten."

Feven ist Christin. Trotz der bedrückenden Zeit war es für sie auch etwas Besonderes, vier Monate lang in einer Kirche zu leben, noch dazu während der Adventszeit. Mechthild hingegen fühlt sich der Kirche nicht ganz so nah, auch wenn sie streng protestantisch erzogen wurde, hat sie sich entfernt. Aber ihren Konfirmationsspruch zitiert sie sofort: "Das will ich mir schreiben in Herz und Sinn, dass ich nicht für mich auf Erden bin, dass ich die Liebe, von der ich leb’, liebend an andere weitergeb’". Und das tut sie, fröhlich und voller Tatendrang.