100 x gebetet – Mit Bibel, Koran und rotem Hocker für Religionsfreiheit

Foto: Michael Lenz
100 x gebetet – Mit Bibel, Koran und rotem Hocker für Religionsfreiheit
Zum 100. Mal feierten an diesem Sonntag protestantische Christen und ihre Freunde aus anderen Religionen vor dem Präsidentenpalast in Jakarta einen Gottesdienst. Zum 100. Mal beteten sie darum, dass der Präsident ihr Flehen um Religionsfreiheit erhört. Im Zentrum stehen, stellvertretend für viele andere Gemeinden im Visier islamischer Hardliner, die beiden protestantischen Kirchengemeinden Filadelfia in Bekasi und Yasmin in Bogor.

Vor allem die Geschichte der Yasmin Gemeinde ist zu einer schier unendlichen Saga geworden. Trotz eines Urteils des höchsten Gerichts Indonesiens aus dem Jahr 2009 verweigert Bogors Bürgermeister Bima Arya Sugiarto auf Druck militanter islamischer Organisationen der Gemeinde die Benutzung ihrer Kirche. Das Gotteshaus bleibt versiegelt.

Mit Bedacht haben die drangsalierten Christen den Ort gewählt, an dem sie seit Jahren an jedem zweiten Sonntag diese Veranstaltungen abhalten, die eine Mischung aus Protest, Andacht und Volksfest sind. Der Platz liegt in der Mitte zwischen dem Nationalmonument, einem 137 Meter hohen Turm, an dessen Spitze eine goldene Flamme Indonesiens Stolz, Unabhängigkeit und Freiheit symbolisiert und dem blendendweißen Haus aus der Kolonialzeit auf der anderen Seite. Darin residiert jener Mann, der diese Werte jedem Indonesier im Alltag garantieren soll: der Präsident.

"Wir beten doch alle zu Gott"

An diesem Sonntag steht zwischen dem weißen Haus und der goldenen Flamme ein bescheidenes rotes Plastikhöckerchen. Darauf ein weißes Blatt Papier dem Aufdruck in dicken, schwarzen Lettern: President RI. Der symbolisch für den Präsidenten der Republik Indonesien (RI) reservierte Hocker bleibt während der gut vierstündigen Veranstaltung auf dem Platz ohne Schatten bei gut 35 Grad tropischer Hitze allerdings leer.

Bagus zeigt mit ausgestrecktem Arm auf den Präsidentenpalast und sagt empört: "Der Präsident soll uns zuhören. Wir wollen, dass er unsere in der Verfassung garantierten Rechte durchsetzt." Der 28-jährige Katholik in der schwarzen Kapuzenjacke ist einer von einhundert Kunststudenten des Jakarta Institute of Art, die an diesem Sonntag die Gemeinden Filadelfia und Yasmin unterstützen. Zusammen mit Pastoren in schwarzen Talaren, prominenten Menschenrechtsaktivistinnen in flamboyanter Kleidung, Muslimen mit Kopftüchern und – die Männer – mit dem traditionellen Songkok auf dem Kopf, stehen die Studenten am Straßenrand, schauen auf den Präsidentenpalast und halten Schilder mit der Forderung Toleranz, Rechtsstaat, Religionsfreiheit, Gewaltlosigkeit und Harmonie und Fotos der 99 früheren Gebetsproteste hoch.

Eine der Studentinnen ist Ayu. Für ein Foto für Journalisten posiert die 18 Jahre alte Muslimin vor der von ihr und ihren Kommilitonen gestalteten "Wand der Hoffnung". "Ich kann nicht verstehen, dass Menschen nur wegen ihres Glaubens unterdrückt werden. Wir beten doch alle zu Gott", findet Ayu. Deshalb hat sie gerne bei der Aktion mitgewirkt, die zugleich eine praktische Übung des Kurses "Aktivismus und Kunst" der evangelischen Dozentin Dolorosa Sinaga darstellt.

Hardliner wollen einen islamischen indonesischen Staat

Indonesien ist weltweit das Land mit dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil. Über 80 Prozent der 250 Millionen Indonesier sind Anhänger des sunnitischen Islam. Die Pancasila, die Verfassung, garantiert Muslimen, Katholiken, Protestanten, Buddhisten, Taoisten und Hindus ausdrücklich die Religionsfreiheit. Kern der Pancasila sind fünf Grundsätze, mit denen Indonesiens erster Präsident Sukarno dem Vielvölkerstaat eine Ideologie und Identität geben wollte.

Mit dem Prinzip der All-Einen Göttlichen Herrschaft wollte Sukarno vor 70 Jahren jenen Kräften den Wind aus den Segeln nehmen, die aus Indonesien einen islamischen Staat  machen wollten. Die große Mehrheit der indonesischen Muslime lebte die Pancasila schon lange, bevor Sukarno sie formulierte. An der moderaten und toleranten Einstellung der Mehrheit der Indonesier hat sich bis heute nichts geändert.

Aber wie immer gibt es die Ausnahmen von der Regel. Islamische Hardliner haben das Ziel eines islamischen indonesischen Staates bis heute nicht aufgegeben. Besonders stark sind die islamischen Hardliner in der Provinz Westjava mit eben den Millionenstädten Bekasi und Bogor, die wiederum zusammen mit einigen anderen Städten und dem eigenständigen Jakarta eine Metropolenregion mit mehr als  23 Millionen Menschen bilden.

In Bekasi hatten die Behörden ebenfalls auf Druck islamistischer Gruppen im März 2013 die Kirche der Filadelfia Gemeinde abreißen lassen. Filadelfia ist eine Kirche der indigenen Batak aus Sumatra. Viele Batak sind auf der Suche nach Arbeit in den Großraum Jakarta migriert. Die Yasmin Gemeinde gehört zu den indonesischen Presbyterianern. Betroffen von der Willkür und Gewalt militanter islamischer Gruppen in Westjava und einigen anderen Regionen sind auch die muslimischen Minderheiten der Schiiten und Ahmadis.

Die Gemeinden Filadelfia und Yasmin haben gewichtige Freunde: das Oberste Gericht, die Ombudsmann-Kommission sowie die Nahdlatul Ulama, die mit über 30 Millionen Mitgliedern zweitgrößte islamische Massenorganisation Indonesiens. Aber keiner konnte sich bisher gegen die fanatische, mitunter gewaltbereite Minderheit islamischer Hardliner mit guten Verbindungen zu reaktionären Kräften in Politik, Polizei und Militär durchsetzen.

"Filadelfia und Yasmin sind nur die prominentesten Fälle. Es gibt viele andere", sagt Bona Sigalingging, Sprecher von Yasmin und Organisator der 100 Gebetsproteste. Sigalingging räumt aber auch ein, dass die Zahl Fälle von Schikane, Willkür und schiere Gewalt gegen religiöse Minderheiten seit dem Amtsantritt des reformorientierten Präsidenten Joko Widodo im Oktober vergangenen Jahres abgenommen hat. "Jetzt müssten die existierenden Probleme gelöst werden, aber es passiert nichts", klagt Sigalingging. Vor allem der Bürgermeister von Bogor, Bima Arya Sugiarto, bleibt stur, obwohl er der Partei des Nationalen Mandats (PAN) angehört, die vor kurzem der Regierungskoalition von Präsident Widodo beigetreten ist. "Sugiarto möchte wohl in zwei Jahren Gouverneur von Westjava werden. Dafür braucht er aber die Unterstützung der Wähler der islamistischen Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei, deren Hochburg Westjava ist", vermutet Sigalingging.

"Findet den Mut, geltendes Recht anzuwenden und durchzusetzen"

An kämpferischen Worten und Appellen herrscht bei dem 100. sonntäglichen Gebetsprotest kein Mangel, der ein Stelldichein der großen, prominenten Wortführer und Wortführerinnen des fortschrittlichen Indonesien ist. "Kämpft weiter", ruft Lily Wahid, Schwester des 2009 verstorbenen ehemaligen Staatspräsidenten und Galionsfigur des toleranten Islam Abdurrahman "Gus Dur" Wahid den gut 300 Teilnehmern des Gebetsprotests zu und endet ihre kurze Ansprache mit dem Ruf "Merdeka" – "Freiheit". Dr. Soritua Nababan, der große alte Mann des indonesischen Protestantismus, ruft zum Gebet für Präsident Widodo, Bürgermeister Surgiarto "und alle, die uns das Leben schwer machen" auf.  Nursyahbani Katjasungkana, Indonesiens prominenteste Menschenrechtsanwältin, beklagt, dass Indonesien noch immer kein wirklicher Rechtsstaat ist.

Aan Anshori traut sich was ganz Mutiges. Vor der versammelten Christenmenge betet der Sprecher des Islamischen Netzwerkes gegen Diskriminierung (Jaringan Islam Anti Diskriminasi - JIAD), dass "die Polizei und der Präsident den Mut finden, geltendes Recht anzuwenden und durchzusetzen". Dafür zitiert der junge Mann mit lila gefärbten Haaren die Eröffnungssure des Koran, die Al-Fatiha.

"Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.

Lob sei Gott, dem Weltenherrn,

Dem Erbarmer, dem Barmherzigen,

Dem Herrscher am Tage des Gerichts.

Dir dienen wir und zu Dir rufen wir um Hilfe.

Leite uns den rechten Pfad

Den Pfad derer, denen Du gnädig bist, nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden."

Die Al-Fatiha ist das wichtigste Gebet im Islam.