Das Wohl und Wehe der Gemeinden

Kirchengemeinden in Deutschland
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Das Wohl und Wehe der Gemeinden
Wie geht es den evangelischen Kirchengemeinden in Deutschland? Lange Zeit hat niemand danach gefragt. Jetzt legt das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD eine neue Studie vor: Demnach geht es den Gemeinden in den Städten tendenziell besser als denen auf dem Land. Die meisten Kirchenältesten machen ihren Job gern und viele sehen trotz Geldsorgen optimistisch in die Zukunft: Sie vertrauen auf ihre gute Organisation und Zusammenarbeit.

Es gab in Deutschland rund 50 Jahre lang keine Studie, die beschrieb, wie es den Kirchengemeinden geht. Warum nicht?

Petra-Angela Ahrens: Ich denke, das hängt auch mit der historischen Entwicklung zusammen. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gab es bis in die sechziger Jahre hinein  ja sozusagen eine Blütezeit der  Kirche. Es war relativ selbstverständlich, in einen Sonntagsgottesdienst zu gehen und für viele auch, sich darüber hinaus noch zu beteiligen. Und dann kam mit den 68ern ein erster Schnitt: Viele Kirchenmitglieder haben sich von der Kirche distanziert. Das Forschungsinteresse richtete sich dann zunächst auf diese Kirchenmitglieder. Die Basisstruktur, die Kirchengemeinden, hat ja weiter bestanden. Und es schien auch geklärt, dass das Leben in den Kirchengemeinden "kerngemeindlich" strukturiert ist: Die, die sich noch fest an die Kirche halten, sind dort auch zu finden. Spannender war da eben die Frage, warum sich Menschen distanzieren, und später, in welche Richtung sie stattdessen gehen, welche anderen Formen von Religiosität für sie Bedeutung haben.

Gab es denn jetzt einen konkreten Anlass für diese Gemeindestudie?

Ahrens: Der Anlass war genau dieser Punkt: Dass diese wichtige Basisstruktur nicht mehr im Zentrum des Interesses stand. Wir wissen ja, dass die Entwicklungen bei der Kirche nicht nur positiv sind, wir haben zurückgehende Kirchenmitgliederzahlen und weitere Probleme. Da war die Frage: Wie gehen eigentlich die Kirchengemeinden damit um?

Jetzt ist die Studie fertig und veröffentlicht. Wer soll sie denn lesen, für wen ist sie gedacht?

Ahrens: Letztlich für alle, die daran interessiert sind. Wir hoffen, dass gerade Kirchenvorstände oder Kirchenälteste sie lesen. Wir hoffen aber auch sehr, dass Kirchenleitungen sich damit beschäftigen - und dass dieser Bereich auch wissenschaftlich ernst genommen wird. 

Ein Ergebnis war zu erwarten, nämlich dass keine Gemeinde ist wie die andere. Es gibt eine sehr große Vielfalt. Gab es denn ein Detail-Ergebnis, das Sie persönlich überrascht hat?

Ahrens: Überrascht hat mich, wie stark die Kirchengemeinden ihre Kontakte in ihr näheres und weiteres Umfeld pflegen. Darauf wird sehr viel Mühe verwendet. Das hat mich wirklich überrascht, denn wir haben ja häufig die Vorstellung von einer so genannten Festungsmentalität: die Gemeinde beschäftige sich nur mit sich selbst. Das ist aber nicht der Fall. Sondern die Gemeinden sind auch auf ihr Umfeld ausgerichtet, in dem sie sich bewegen.

Ein Leitbild, nach dem man konkret handeln kann, tut den Gemeinden gut

Viele Kirchenvorstände haben gesagt, die Arbeit mit Jugendlichen und mit Familien sei ihnen am wichtigsten. Sie tun dafür aber de facto weniger als für ältere Menschen  und für Kinder. Warum machen sie nicht das, was ihnen wirklich am Herzen liegt? 

Ahrens: Natürlich liegt ihnen viel daran, den Nachwuchs – das heißt die Jugendlichen und auch die Familien – zu erreichen. Die Frage ist aber, inwieweit das dann auch gelingt, also wen sie erreichen können. Die ältere Generation dominiert im Gemeindeleben, das ist eigentlich die Aussage, die damit getroffen wird. Es ist nicht immer einfach, den Kreis der Interessierten zu erweitern; aber viele richten ihre Bemühungen durchaus darauf.

Vielleicht hängt die Dominanz der Älteren auch mit der so genannten Milieuverengung in den Kirchenvorständen zusammen? In der Studie steht, dass sie überdurchschnittlich hoch gebildet und verheiratet sind und sich oft für klassische Musik interessieren. Ist das aus Ihrer Sicht ein Problem?

Ahrens: Das war im Übrigen auch eine Überraschung, muss ich dazu sagen. Wir haben uns ja so einiges angeguckt, was man mit milieuspezifischen Orientierungen in Zusammenhang bringen kann. Dabei konnten wir schon feststellen, dass zumindest die mittleren Jahrgänge unter den Kirchenältesten stark vertreten sind. Und wenn man sich das genauer betrachtet, erkennt man, dass zum Beispiel bei den Musikvorlieben durchaus ein weites Feld bespielt wird. Das heißt: Eine Milieuverengung, wie sie weithin verstanden wird, kann man eigentlich gar nicht diagnostizieren. Die Palette der Orientierungen ist sehr viel breiter als oft gedacht, und das fand ich eigentlich gut!

Insgesamt haben wir jetzt eine Menge Daten und Beschreibungen von Kirchengemeinden in ganz Deutschland. Was soll mit der Studie weiterhin gemacht werden?

Ahrens: Ich denke, die Studie muss dazu beitragen, die Gemeinden – ihre Arbeit, ihr Wohl und Wehe – genauer wahrzunehmen. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt. Und für die Gemeinden selbst lässt sich eben auch erkennen, dass tatsächlich Chancen bestehen, sich weiter zu entwickeln – nicht zuletzt durch eine aktive Orientierung auf das soziale Umfeld, in dem sie wirken. Dazu könnte man noch ergänzen – das ist auch ein Ergebnis, das ich bemerkenswert finde – dass es ungeheuer zur Zufriedenheit der Gemeinden beiträgt, wenn sie versuchen, organisatorische Aspekte stärker zu berücksichtigen, um eine Zielausrichtung auch praktisch umzusetzen. Das trägt zur Aktivität und zur Zufriedenheit bei.

Was meinen Sie mit "organisatorische Aspekte stärker zu berücksichtigen"?

Ahrens: Dass man sich zum Beispiel die eigene Zielorientierung genauer anguckt oder – weitergehend – auch Managementverfahren anwendet, die nicht nur darin enden, dass man ein Leitbild entwickelt, das dann in der Schublade verschwindet. Sondern etwas, das man in konkretes Handeln umsetzt. An dieser Stelle zeigt die Studie, dass so etwas den Gemeinden ausgesprochen gut tut. 

Dennoch schwebt ja über allem immer die Sorge, dass das Geld weniger wird, die Bevölkerung abnimmt und die Menschen sich immer weniger  für Religion interessieren. Sie haben am Anfang gesagt, dass die Basisstruktur der Parochie bisher immer vorausgesetzt wird. Wird es denn die Ortsgemeinden für alle Zeiten geben? Oder ist da ein Ende absehbar?

Ahrens: Das ist schwierig zu beantworten. Ich denke, es ist noch ganz lange kein Ende abzusehen. Aber Neustrukturierungen sind wohl unvermeidlich, das sehen wir ja jetzt schon bei Regionalisierungen oder Gemeindefusionen. Es kommt darauf an, diese Prozesse klug und mit den Gemeinden zu gestalten.

Zum Schluss haben Sie eine Gemeinde-Typologie aufgestellt, die teilweise ganz lustig oder sogar makaber klingt. Die Rede ist von der "Kirchengemeinde im freien Fall", vom "Tod auf Raten" und dem "Phönix aus der Asche". Hat es Ihnen Spaß gemacht, das aufzuschreiben?

Ahrens: Ich glaube, man merkt schon an den Begriffen, die verwendet wurden: Die sollten ein bisschen griffig sein, damit man sich die Typen auch gut merken kann. Aber wenn Sie zum Beispiel den "Phönix aus der Asche" nehmen (sehr kleine Gemeinde, die mit einer besseren Zukunft rechnet, Anm.d.Red.) – ich finde das schon beeindruckend! Eigentlich sind alle Rahmenbedingungen relativ schlecht und trotzdem versuchen diese Gemeinden, etwas daraus zu machen.