Thomanerchor-Leiter Biller: "Ich rege Nachdenken an"

Thomanerchor-Leiter Biller: "Ich rege Nachdenken an"
Thomaskantor Georg Christoph Biller leitet seit 1992 den berühmten Thomanerchor in Leipzig. Der Festwoche zum 800-jährigen Jubiläum in dieser Woche sieht er trotz des Termindrucks gelassen entgegen. Billers Erfolgsrezept: "Wahrhaftigkeit" und der richtige Umgang mit Formtiefs.
19.03.2012
Die Fragen stellte Stephanie Höppner

Können Sie sich noch an ihre Zeit als Thomaner erinnern? Was war das prägendste Erlebnis aus dieser Zeit?

Georg Christoph Biller: Natürlich kann ich mich an meine Zeit erinnern. Ich war von 1965 bis 1974 Thomaner. Die Musik war faszinierend und hat mich über das Heimweh, das ich am Anfang hatte, getröstet - beziehungsweise mich überhaupt dran kleben lassen an diesem Thomanerchor.

Was hat sich geändert im Vergleich zur damaligen Zeit?

Biller: Es hat sich im Verhältnis zu dem, was sich in der Umwelt alles geändert hat, wenig ändern müssen, weil es ja im Wesentlichen um dasselbe geht. Verändert hat sich aber die Autoritätshörigkeit, was zum Teil gut ist, aber auch zum Teil anstrengender.

Die Jungs sind frecher?

[listbox:title=Infobox: Der Thomanerchor[Seit 800 Jahren berühren die Leipziger Thomaner unzählige Zuhörer mit ihrem Gesang. Mit seiner Jahrhunderte alten Geschichte ist das berühmte Knabenensemble aus etwa 100 Jungen der 4. bis 12. Schulklasse einer der ältesten Chöre überhaupt.##Die Chorgründung ging 1212 auf Markgraf Dietrich von Meißen zurück, der an die Thomaskirche eine Schule angliederte. Dort sollten die Kinder vor allem dafür ausgebildet werden, den musikalischen Dienst anstelle der Chorherren zu übernehmen.##Die Thomaner sangen, quasi als Gegenleistung für Schulbildung und Unterkunft, während der Gottesdienste, bei Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen sowie bei Veranstaltungen der Ratsmitglieder. Die Thomasschule war auch für Bürgerkinder zugänglich und gilt daher als Deutschlands älteste öffentliche Schule.##Heute leben die Jungen in einem Internat knapp 1.000 Meter vom historischen Schulgebäude entfernt. Sie besuchen die Thomasschule, ein humanistisches Gymnasium.##Aus dem Chor sind auch berühmte Schüler hervorgegangen, wie etwa der Tenor und Kammersänger Martin Petzold oder Mitglieder der Popgruppe "Die Prinzen".]]

Biller: Man muss mehr erklären als früher. Früher wurde einfach alles so gemacht, weil der Kantor es so gesagt hatte. Das ist heute oft auch noch so. Musik ist ja autoritär, da kann man sich nicht aussuchen, ob man das jetzt so macht oder nicht, sondern es wird einfach gemacht. Und dennoch ist vieles in der Disziplin einfach etwas freier.

Was muss der Thomaner von heute alles so mitbringen - gesanglich, aber vor allem auch persönlich?

Biller: Er muss eine Musikalität mitbringen, eine gute Stimme und eine Intelligenz, die es ihm ermöglicht, im Vergleich zu seinen Altersgenossen in kürzerer Zeit viel Pensum zu schaffen. Und er muss sich auch durchsetzen können. Diejenigen, die sensibler sind und introvertierter, die haben es schwerer, das weiß ich aus eigener Anschauung.

Worauf legen Sie in der Ausbildung besonderen Wert?

Biller: Ich lege besonderen Wert auf Wahrhaftigkeit. Es gibt - und das mache ich ihnen auch vor - Formtiefs, mit denen man umgehen muss und seine Aufgabe dennoch wahrnehmen sollte. Aber das hat eher was mit Kraft zu tun, die man dem Tief entgegensetzt als mit einer aufgesetzten Maske. Die liebe ich gar nicht und die ist ja um uns herum so prägend. Und das will ich den Thomanern mitgeben und vormachen, dass sie das nicht als anstrebenswert erleben sondern als unwahrhaftig ablehnen.

"Für schwere Texte braucht ein Pfarrer

eine halbe Stunde im Gottesdienst und

trotzdem kapiert's mitunter kaum jemand"

 

Wahrhaftig heißt, man kann auch zu seinen Schwächen stehen, man kann auch mal schlechte Zeiten haben?

Biller: Ja. Ich benenne das auch oft. Die sind ja auch untereinander sehr klar in der Kritik. Da wird kein Bogen um die Wahrhaftigkeit und um unbequeme Aussagen gemacht. Es kommt vielmehr drauf an, dass man die Unbarmherzigkeit der harten Kritik nicht übertreibt. Also, dass in jedem, was schwierig ist, auch gleich der Weg gezeigt wird, wie es anders geht, besser geht.

Aber wie lässt sich das mit einem eng gestrickten Terminkalender vereinbaren?

Biller: In dem das so gemacht wird, wie ich das sagte. Selbst wenn jetzt ein Engpass da ist, haben wir aber trotzdem gleich Konzert und dann muss es klappen. Ich bin dann auch nicht erbarmungslos, wenn irgendwas schief geht, aber es wird benannt. Dann sagen wir nicht: 'Das war trotzdem gut.' Wir sagen: 'Das war beschissen. Aber das heißt nicht, dass du nichts taugst.'

Wie schaffen Sie es denn, die Kinder auch noch heute für Bach zu begeistern?

Biller: Das ist mehr dieses Eingebunden sein hier. Die betreten, wenn sie hier reinkommen eine ganz eigene Welt. Das merken sie und an der wollen sie teilhaben. Natürlich gibt es da auch immer mal große Schwierigkeiten. Es wird abgewogen - sind die Schwierigkeiten so prägend, dass ich es lassen muss oder bleibe ich hier, weil es doch eigentlich faszinierend ist? Ein Thomaner-Vater sagte mir mal über seinen Sohn: ihm gefällt, dass hier jeden Tag Party ist. Party heißt, es ist immer was los. Das könnte der zu Hause nie erleben.

Welche Rolle spielen eigentlich die christlichen Inhalte der Musik. Beeinflusst das die Jugendlichen?

Biller: Ja sehr. Da bin ich natürlich auch wieder in gewisser Weise wichtig, weil ich danach immer frage. Ich rege das Nachdenken an. Ich frage und dann gibt es ein Zwiegespräch. Natürlich muss das schnell gehen und kurz sein. Wir haben nicht jedes Mal viel Zeit für eine eingehende Beschäftigung. Aber gerade wenn die Zeit drängt, darf das nicht außer Acht gelassen werden.

Was sind das für Fragen?

Biller: Was bedeutet diese Textstelle? Und dann kommen sofort Antworten, darauf sind die ja trainiert, sich zu melden und manchmal wissen sie es gar nicht und melden sich einfach so. Und auch das wird benannt. Dass die Texte schwer sind, das ist natürlich klar. Dafür braucht ja ein Pfarrer eine halbe Stunde im Gottesdienst und trotzdem kapiert's mitunter kaum jemand.

Haben Sie schon erlebt, dass sich Kinder und Jugendliche auf einmal zum christlichen Glauben hingezogen fühlen?

Biller: Ja, das ist bei fast allen der Fall. Sie lassen sich im Laufe ihrer Zeit taufen. Ich bemühe mich darum, dass da nicht so ein Dünkel entsteht im Sinne von: man müsste, man sollte... man muss hier nicht! Ich habe erklärt, was das ist und was wir damit ausdrücken. Und ob man dann was glaubt, ist offen. Ich sage schon, dass ich an etwas glaube. Aber ich sage auch, dass das Zweifeln unterworfen ist. Wie ja auch unser Namenspatron "Thomas" der Zweifler ist. Der ist für unsere Zeit auch sehr typisch und wichtig.

"Wir sind dran gewöhnt,

immer auf Hochtouren zu arbeiten"

 

Wie sehen Sie denn die Zukunft des Thomanerchors? Wird die Ausbildung durch das forum thomanum immer früher ansetzen?

Biller: Forum meint ja, dass es nach allen Seiten offen ist, ein Marktplatz sozusagen, rein bildlich gesprochen. Das heißt, wir wollen nicht nur etwas Abgeschlossenes sein und uns intensiv mit der Musik beschäftigen, weil das unser Auftrag und unsere Tradition ist, sondern wir wollen andere beteiligen. Früher gab es im Haushalt ein Klavier, das war Standard. Das ist heute die Ausnahme. Die Leute rücken immer weiter weg vom eigenen Tun, Musik dudelt irgendwo. Dadurch hat sich die Beliebigkeit von Musik erhöht. Wir wissen, dass wir nicht die ganze Gesellschaft reformieren können, aber dass wir ein Beispiel geben können.

Der Kindergarten ist ja auch nicht die frühe Kaderschmiede, sondern da kommt ja jeder rein nach chronologischer Anmeldung und nicht etwa bevorzugt Söhne von ehemaligen Thomanern oder Musikern. Da sind Mädchen wie Jungs drin.

Die Anzahl der Jungs, die vorsingen, ist ja deutlich kleiner geworden, gleichzeitig soll der Chor vergrößert werden. Führt diese Rechnung nicht dazu, dass sich in Zukunft die Qualität des Chors verschlechtern wird?

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Biller: Nein. Die Erweiterung hat etwas mit Verbesserung zu tun. Das heißt, ich werde nicht mit einem größeren Chor auftreten, sondern möchte, dass die Einzelnen seltener auftreten müssen. Ich kann natürlich ab und zu etwas groß setzen, und werde das auch machen, damit das Gefühl der Zugehörigkeit auch bedient wird, aber es wird auch viel mehr kleinere Besetzungen geben, die dann besser darauf vorbereitet sind. Je kleiner, desto besser muss jeder das beherrschen und Farbe bekennen.

Zum 800-jährigen Jubiläum: Sind sie denn schon nervös, was die Festwoche und ihre eigene Komposition angeht?

Biller: Nein. Wir sind ja dran gewöhnt, immer auf Hochtouren zu arbeiten. Wir haben uns in diesem Jahr lediglich noch besser als in den vergangenen Jahren auf alles vorbereitet und abgestimmt, wie der Plan des ganzen Jahres bis Januar 2013 aussieht, weil wir wussten, dass es sonst zu vielen Engpässen kommt. Die wird es dennoch geben. Aber wenn man sich jetzt verrückt machen würde, würde man das Jahr nicht durchstehen.

Meine Musik ist Anfang Februar fertig geworden. Das ist relativ spät, denn sie wird ja am 8. April uraufgeführt und muss jetzt gedruckt werden. Ich betrachte es wie die Komposition eines anderen Komponisten. Ich bin jetzt Interpret. Ich sage auch: Was ist denn das hier? Wenn es beschissen ist, sage ich das auch - in der stillen Hoffnung, dass mir die Thomaner dann widersprechen.

epd

Seit 1992 leitet Georg Christoph Biller die berühmten Thomaner als Thomaskantor. Er selbst war von 1965 bis 1974 Mitglied des Chores. Biller tritt damit in die Nachfolge berühmter Thomaskantoren wie Johann Kuhnau, Johann Adam Hiller und natürlich Johann Sebastian Bach, dessen sechzehnter Nachfolger er ist.