Sozialethiker: Gut, dass Gauck über Freiheit redet!

Sozialethiker: Gut, dass Gauck über Freiheit redet!
Der evangelische Sozialethiker Ulrich Körtner begrüßt es, dass der künftige Bundespräsident Joachim Gauck das Freiheitsthema wieder auf die politische Tagesordnung setzt. Über der ebenfalls wichtigen Forderung nach Gerechtigkeit sei das Freiheitsverlangen nach 1989 rasch in den Hintergrund gerückt, sagte der Theologieprofessor, der an der Universität Wien lehrt, dem Evangelischen Pressedienst. Dass mit Joachim Gauck ein ordinierter Pfarrer das höchste Staatsamt übernimmt, berge die Gefahr, dass von ihm zu viel an moralischer Autorität erwartet werde.
12.03.2012
Die Fragen stellte Rainer Clos

Freiheitschancen sind ein großes Thema für Joachim Gauck. Wird er als Bundespräsident bei diesem Leitthema bleiben können, oder muss er auch andere Akzente setzen?

Ulrich Körtner: Ich finde es gut und wichtig, dass der künftige Bundespräsident das Freiheitsthema wieder auf die politische Agenda setzt. Über der unbestritten wichtigen politischen Forderung nach Gerechtigkeit ist das Freiheitsverlangen nach 1989 rasch in den Hintergrund getreten. Umso mehr hat der Arabische Frühling die westlichen Gesellschaften überrascht.

Gauck gilt eher als Konservativer, auch wenn er ebenso der Wunschkandidat von SPD und Grünen ist. Ich hielte es für fatal, die Themen Gerechtigkeit und Freiheit politischen Lagern zuzuordnen. Das Freiheitsthema - wenn man es wie Gauck mit dem Begriff der Verantwortung verbindet - ist zu kostbar, als dass es von sich für progressiv oder links haltende Gruppierungen einfach den Konservativen überlassen dürften. Wer immer nur "Neoliberalismus" hört, wenn von Freiheit gesprochen wird, handelt töricht.

Zweifellos muss Gauck auch das Gerechtigkeitsthema anpacken. Aber es geht darum, das Verhältnis von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit neu zu bestimmen. Es könnte schon bald sein, dass sich die Staaten Europas ihr bisheriges Wohlfahrtssystem nicht mehr leisten können, weil sie Unsummen in die Stützung des Euro und maroder Staaten wie Griechenland gesteckt haben. Alte Umverteilungsparolen werden uns da nicht weiterhelfen.

Freiheit ist auch ein urevangelischer Begriff ...

Körtner: Manche vertreten die Auffassung, das Freiheitsthema sei typisch protestantisch, während die katholische Tradition eher dem Gerechtigkeitsthema verpflichtet wäre. Freiheit ist aber nach evangelischem Verständnis nicht ohne Verantwortung - und das heißt auch soziale Verantwortung - zu denken. Die für den evangelischen Glauben zentrale Rechtfertigungslehre hängt aufs Engste mit dem biblischen Gerechtigkeitsthema zusammen. Deshalb hoffe ich, dass sich die Kirchen bei der geforderten neuen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gerechtigkeit wechselseitig befruchten und gemeinsam einen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs leisten.

"Nach dem Wulff-Desaster besteht die Gefahr,

vom Pastor Gauck zu viel

an moralischer Autorität zu erwarten"

 

Die bisherigen Bundespräsidenten entstammen - von zwei Ausnahmen abgesehen - dem evangelischen Milieu. Heinemann, Weizsäcker, Herzog und Rau waren ausgesprochen kirchlich engagierte Protestanten. Hat es dennoch eine andere Qualität, wenn ein evangelischer Pfarrer das höchste Amt im Staat einnimmt?

Körtner: Es ist durchaus zu begrüßen, wenn sich nicht nur einfache Christenmenschen, sondern auch Theologen und ordinierte Pfarrer politisch engagieren. Allerdings bedarf es besonderer Sensibilität, um das Amt des ordinierten Pfarrers vor einer politischen Instrumentalisierung zu schützen, wie umgekehrt politische Ämter vor Sakralisierung zu schützen sind. Man denke nur an die anfängliche Überhöhung des US-Präsidenten Obama zur messianischen Lichtgestalt - und dabei ist Obama kein Pfarrer!

Nach dem Desaster des Kurzzeitpräsidenten Wulff, der nicht nur das Ansehen des Präsidentenamtes, sondern das der politischen Klasse insgesamt schwer beschädigt hat, besteht die Gefahr, vom Pastor Gauck zu viel an moralischer Autorität zu erwarten. Sein Privatleben ist bereits ein Politikum, weil es manche mit den moralischen Anforderungen an das Amt eines Präsidenten für unvereinbar halten. Umgekehrt muss man sagen, dass man auch von der Lebensführung eines ordinierten Pfarrers nach wie vor mehr als von anderen Menschen erwartet - eben eine besondere Vorbildfunktion.

Es kommt sehr darauf an, die Rolle des Pastors und diejenige des Präsidenten auseinanderzuhalten. Das gilt für den künftigen Inhaber des Amtes nicht minder als für die Öffentlichkeit. Das Amt des Bundespräsidenten ist nicht die Fortsetzung des Pfarrdienstes mit anderen Mitteln, das Schloss Bellevue keine Kirche und das Rednerpult in der politischen Arena keine Kanzel.

Zwei Protestanten aus Ostdeutschland nehmen künftig die politischen Spitzenämter ein. Bestätigt sich damit eine abgewandelte Prognose aus dem Jahr 1990: Mit der Wiedervereinigung wird Deutschland östlicher, nördlicher und protestantischer?

Körtner: Östlicher ja, nördlicher und protestantischer nein. Immerhin stammte auch der Katholik Wulff aus Norddeutschland, und vor ihm hatten mehrere bekennende Protestanten das Amt des deutschen Bundespräsidenten inne. Wer hätte behaupten wollen, mit Christian Wulff, dem Nachfolger des Protestanten Horst Köhler, wäre die Bundesrepublik zeitweilig katholischer geworden, auch wenn Wulff den Papst zum Staatsbesuch eingeladen hatte?

Dass nun im Jahr 22 nach der Wiedervereinigung erstmals ein Ostdeutscher das höchste Amt im Staate bekleidet, ist aber ein ganz wichtiges Signal dafür, dass die Einheit nicht nur äußerlich sondern auch innerlich vollzogen oder doch weit vorangeschritten ist. Und durch die Fluktuation zwischen Ost und West wird das Lagerdenken zwischen "Ossis" und "Wessis" hoffentlich irgendwann der Vergangenheit angehören.

epd

Der Wiener Sozialethiker Ulrich Körtner studierte Evangelische Theologie in Bethel, Münster und Göttingen. Promotion (1982) und Habilitation (1987) erfolgten an der Kirchlichen Hochschule Bethel. Seit 1992 ist er Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Gleichzeitig ist er Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.