Gequält und geschlagen: In fast jedem Land wird gefoltert

Gequält und geschlagen: In fast jedem Land wird gefoltert
Der Begriff Folter erinnert an Mittelalter oder die Inquisition. Doch das Thema ist auch im 21. Jahrhundert hochaktuell. Das Resümee des früheren UN-Sonderberichterstatters Manfred Nowak in seinem Buch über seine Recherchen: In 90 Prozent der Staaten wird gefoltert.
08.03.2012
Von Andreas Rabenstein

Erst nach Drohungen und offiziellen Anweisungen von oben öffnen die Polizisten in Nigerias Hauptstadt Lagos einen angeblichen Lagerraum hinter ihrem Büro. Der Anblick erschüttert das Team von UN-Sonderberichterstatter Manfred Nowak. 125 Gefangene, unter ihnen Frauen und Kinder, drängen sich in einem heißen, feuchten Raum. Jeder wurde schwer gefoltert. Die Besucher sehen verbrannte Haut, durchschossene Beine und verfaulte Gliedmaßen. Der Gerichtsmediziner im Team spricht vom schlimmsten Ort, den er je untersuchte.

Sechs Jahre, von 2004 bis 2010, reiste der österreichische Jurist und Wissenschaftler Nowak (61) im Auftrag der Vereinten Nationen um die Welt. Sein Auftrag: Verstöße gegen die Menschenrechte, insbesondere Folter, zu dokumentieren. Auf jedem Kontinent und in jeder Staatsform stößt er auf Gewalt und Folter, verübt von Polizisten oder Geheimdienstlern. Auch Europa und demokratische Systeme sind nicht ausgenommen. "Folter. Die Alltäglichkeit des Unfassbaren", heißt sein in diesen Tagen erschienener Bericht.

Häftlinge werden mit dem Kopf nach unten aufgehängt und geschlagen

Der Folter-Raum in Nigeria ist keine Ausnahme. In Kathmandu, Nepal, inspiziert Nowak das große, alte Hauptquartier der Polizei mitten in der Stadt. Im Keller vegetieren zahllose Gefangene in überfüllten Zellen vor sich hin. Im obersten Stockwerk wird gefoltert, beschreibt Nowak die Szenerie. Um Geständnisse zu erzwingen, werden die gefesselten Häftlinge stundenlang mit dem Kopf nach unten aufgehängt, mit Bambusstöcken geschlagen und mit Elektroschocks gequält.

Die Dokumentation der Folter ist nicht einfach. Polizisten und Geheimdienste auf der ganzen Welt streiten alles ab. Das Team um Nowak befragte Gefangene und fotografierte Zellen und Folterräume; der Gerichtsmediziner untersuchte Verletzungen und verglich sie mit den Schilderungen. Mit den Beweisen konfrontiert, meinte der Polizeipräsident von Kathmandu, die Besucher sollten jetzt bitte nicht glauben, dass alle Gefangenen gefoltert würden. Nur jene, die lügen und ihre Taten abstreiten würden. Dann sei klar: "A little bit of torture helps" ("Ein bisschen Folter hilft").

Arme Menschen werden gefoltert, Reiche kaufen sich meist frei

Viele Staaten versuchten mit allen Mitteln, Untersuchungen zu verhindern oder zu behindern. Das Gefangenenlager der USA in Guantánamo durfte Nowak nicht besuchen. Seinen Bericht über massiven Schlafentzug, monatelange Dunkel- und Einzelhaft oder das sogenannte Waterboarding verfasste er nach Befragungen von Ex-Gefangenen trotzdem.

Die im Detail vorbereitete Recherche-Reise nach Russland verweigerte der Putin-Staat 2006 kurzfristig. In China wurden die Handys abgehört, politisch verfolgte Gesprächspartner verschwanden vor Treffen und Geheimdienstagenten folgten den Teammitgliedern bis auf die Toilette. Kuba verschob eine geplante Reise immer wieder, bis die Amtszeit von Nowak ablief. Folter treffe meist Arme, so Nowak. Angesichts hoher Kriminalitätsraten erpresst die Polizei in vielen Ländern Geständnisse von oft willkürlich Festgenommenen mit fast allen Mitteln. Wohlhabendere Menschen können sich meist freikaufen.

Auch in Demokratien wird gequält wie im Mittelalter

In Griechenland lebten Flüchtlinge und Asylbewerber bei Nowaks Besuch in völlig überfüllten Auffangzellen. Die Toiletten waren verstopft und übergelaufen. "Unter der Türe rann ein Rinnsaal aus Wasser, Urin und Fäkalien in den Schlafraum, wo die Menschen auf dem Boden schlafen sollten." In China geht es um Politik. Durch Folter und Gehirnwäsche werden Oppositionelle gebrochen, um sie dann umzuerziehen. Die Methoden haben sich seit Jahrhunderten kaum geändert. Gefesselte Menschen werden an Armen, Beinen oder wie in Sri Lanka an den Daumen aufgehängt. Schläge mit Peitschen oder Eisenstangen sind üblich. Folterer reißen ihren Opfern Fingernägel aus, verbrennen sie mit Bügeleisen oder setzen Elektroschocks ein. Frauen wie Männer werden systematisch vergewaltigt.

Folter sei in ihrer Wirkung für andere Menschen mit dem Verstand nur unzureichend zu fassen, analysiert Nowak, der jetzt das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte in Wien leitet. Daher verbanne die Vorstellungswelt sie unwillkürlich in das Mittelalter oder auf ferne Kontinente. Seine Untersuchungen zeigten aber, "dass die Folter zur alltäglichen Routine der Polizei im Großteil der Staaten des 21. Jahrhunderts gehört". Nicht nur für die Geheimpolizei sogenannter Schurkenstaaten - sie sei auch Teil des Standardrepertoires der normalen Kriminalpolizei, auch in Demokratien.

dpa