Ägypten: "Die Frau blüht und verreckt mit der Gesellschaft"

Ägypten: "Die Frau blüht und verreckt mit der Gesellschaft"
In Ägypten rebellierte ein Volk gegen die Zustände eines Landes - auch die Frauen. Gleichzeitig ist es um ihre Rechte noch schlechter gestellt. Wie aber lassen sich ihre Probleme lösen? Nicht mal eben so und schon gar nicht einfach, sagt die Ägypterin Ebtihal Shedid. Denn es gehe letzendlich nicht um die Rolle der Frau in der ägyptischen Gesellschaft allein, sondern um die Frage der menschlichen Würde in einem Land, in dem ein Mensch nichts wert sei.
07.03.2012
Von Ebtihal Shedid

Ganz ehrlich: Mich nervt die Frage nach der Rolle der Frau in Ägypten während und nach der Revolution. Es nervt mich auch die Frage, ob alle Frauen bald Kopftücher tragen müssen, nachdem die Islamisten an die Macht gekommen sind. Warum? Diese einfache Frage verlangt und erwartet eine einfache Antwort. Die Situation der Frauen in Ägypten ist aber alles andere als einfach.

Das ägyptische Volk ist seit mehr als 60 Jahren unterdrückt, in diesen Jahren ist die Analphabetenrate gestiegen, ebenso der religiöse Extremismus und die Armut. Das ägyptische Bildungssystem ist veraltet und uneffektiv. Der allgemeine Ägypter ist mit seinem täglichen Brot beschäftigt. Freiheit und Demokratie sind abstrakte Begriffe. Die Situation der Frauen kann nicht losgelöst von diesem Kontext betrachtet werden. Letztendlich ist die Frau ein Teil der Gesellschaft, sie blüht und verreckt mit ihr. Wie alle anderen grundlegenden Probleme der Gesellschaft wird das Problem der Frauen nicht schnell und einfach gelöst. Die Situation der Frauen ist also nicht – nur – von den Islamisten gefährdet.

Seit Januar 2011 war und ist die Frau ein Teil der ägyptischen Revolution. Sie ging auf die Straße und hat da ihr Leben gelassen. Sie wurde festgenommen und gefoltert. Sie ist ein Teil der Gesellschaft und die Revolution ist auch ihr Kampf.

Millionen Familien werden von Müttern versorgt

In Ägypten herrscht gegenüber Frauen ein ambivalentes Verhältnis. Auf der einen Seite ist sie die Mutter: Ägypten ist unser "Mutterland", in der arabischen Dichtung wird die Mutter als "Schule" bezeichnet, die Mutter ist Symbol der Liebe und Aufopferung. Die Mutter hält die Familie zusammen. Die Mutter ist eine Frau. Aber erst in der Rolle der Mutter ist die Frau etwas wert.

Auf der anderen Seite ist die Frau an sich: Die Frau an sich ist nicht so viel wert. Auf den ersten Blick könnte man behaupten, dies hat mit der sozialen Schicht zu tun. In vielen reichen Familien ist die Erziehung sehr konservativ und beschützend. Reiche Frauen sind emanzipiert und arme Frauen sind es nicht. Auch wenn das in vielen Fällen stimmen mag: Millionen von Familien der armen Schicht werden von Müttern versorgt. Der Vater sitzt zu Hause und tut nichts.

Ich bin eine Frau, bin 28 Jahre alt, beherrsche vier Sprachen und war früher ägyptische Karatemeisterin. Ich wurde islamisch erzogen und trug auch elf Jahre lang das Kopftuch. Ich kenne viele andere Frauen in der Provinz, in Kairo und Alexandria. Sie kommen aus unterschiedlichen Schichten und haben aus ihrem Leben etwas gemacht. In Ägypten geht es also der Frau sehr unterschiedlich.

Um das Problem der Frau zu lösen, muss sich eine ganze Kultur ändern

Als Frau leide ich unter den Blicken, die mich auf der Straße durchbohren. Das hat vielleicht damit zu tun, dass die Frau hier als Sexobjekt gilt. Das hat aber auch damit zu tun, dass in Ägypten das Heiratsalter mittlerweile auf 35 Jahre gestiegen ist. Und das in einem Land, in dem an vorehelichem Sex nicht gedacht werden soll - schon gar nicht Frauen. Die Regeln, die für Männer gelten, gelten nicht für Frauen. Klischees, die man auch in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit noch sehr gut kannte.

Es fällt mir schwer, über Frauen zu schreiben. Wenn ich im letzten Jahr etwas gelernt habe, dann dass das ägyptische Volk so groß und vielfältig ist, dass man auf keinen Fall eine Erklärung für alles finden kann. Es gibt keine einfache, verallgemeinernde Erklärung.

Es fällt mir aber nicht schwer, zu sagen: Auch wenn jetzt in Ägypten eine wahre Demokratie (was ist das überhaupt?) herrschen sollte, auch wenn die liberalsten Parteien die parlamentarische Wahl gewonnen hätten, wäre das Problem der Frau immer noch nicht gelöst. Dafür muss sich eine ganze Kultur ändern. Eine Kultur, die sich über Jahrzehnte langsam aber sicher verankert hat. Diese Kultur hat nicht nur mit Frauen zu tun, sie hat auch mit der menschlichen Würde zu tun.

Bei uns ist der Tod Alltag, und der Mensch ist kaum etwas wert

Als bei der Loveparade im Jahr 2010 21 Menschen ums Leben kamen, wurde in den deutschen Medien von nichts anderem berichtet. In Ägypten sind seit Februar 2011 regelmäßig jeden Monat Menschen ums Leben gekommen. Im November so viele, dass ich dachte: Jetzt wird sich das gesamte Volk erheben und sagen: Nein, das geht nicht! Das hat aber nicht stattgefunden. Bei uns ist der Tod Alltag, und der Mensch ist kaum etwas wert.

Ich muss mich für den Gedankensprung entschuldigen. Aber die Frage über Frauen zwingt mich, diese Punkte anzusprechen. Um aber alles kurz zusammenzufassen: Das Problem der Frau wird gelöst, wenn die Probleme Ägyptens gelöst werden. Die Lösung ist nicht politischer Natur. Die Lösung liegt in der Bildung und Aufklärung und das wird noch Jahrzehnte dauern. Die Lösung ist die Rebellion gegen zementierte Vorstellungen, gegen Doppelmoral und gegen Scheinheiligkeit.


Ebtihal Shedid ist Germanistin und Dolmetscherin aus Kairo. Sie studierte in Mainz. Kurz vor dem Beginn der Revolution kehrte sie nach Ägypten zurück. Sie bloggt regelmäßig auf der Seite von Transit, einer Seite des Goethe Instituts Kairo. (Foto: Ebtihal Shedid)