"Nicht wir müssen die Wahrheit tragen. Die Wahrheit trägt uns"

"Nicht wir müssen die Wahrheit tragen. Die Wahrheit trägt uns"
"Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." Dieser Vers (2. Timotheus 1,7) war der Predigttext im Gottesdienst zur Amtseinführung der neuen Präses der westfälischen Landeskirche am 4. März in Bielefeld-Bethel.
02.03.2012
Von Präses Annette Kurschus

Liebe Gemeinde,

manchmal hat Gott verblüffende Wege, plötzlich ganz nah zu sein. Auf einmal spürst du: Jetzt, in diesem Moment, berührt dich Gottes Kraft. Völlig unerwartet. Es war vor wenigen Wochen. Kindergartenkinder hatten Bilder für die kahlen Flure und Sitzungsräume unseres Kreiskirchenamtes in Siegen gemalt. Nun waren sie – stolz wie Oskar – in Scharen angerückt, um ihre Werke zu überreichen. Eine Überraschung hatten sie mitgebracht. Die war für mich. Ein Bild für das neue große Haus in Bielefeld. Jesus im Boot mit seinen Jüngern ist darauf zu sehen – die Wellen toben um das Boot herum und drohen es zum Kentern zu bringen. Ein eigenartig schönes Bild: Unruhig in seiner Dynamik, bedrohlich in seiner düsteren Farbgebung – doch zugleich voller Ruhe und Gewissheit.

Einen der kleinen Künstler haben sie als Redner ausersehen. Der baut sich vor mir auf, hält das Kunstwerk in die Höhe, blickt mich treu an und lispelt: "Du brauchst keine Angst zu haben. Der Jesus hat nämlich meistens ziemlich gute Ideen." Da war sie auf einmal: Die Kraft Gottes. Sie ging mitten ins Herz. Mächtig und wärmend. Durch diesen kleinen Knirps. Wie oft habe ich über die biblische Geschichte von der Sturmstillung schon gepredigt! Wie oft habe ich klassische Kunstwerke bestaunt, die diese Geschichte darstellen. Doch jetzt, auf einmal, durch das Bild und die Rede des kleinen Jungen, wurde es meine Geschichte. Jetzt, völlig unerwartet, trafen sie mich: Jesu machtvolle Worte gegen das furchteinflößende Toben der Wellen.

Es geht um Leben und Tod. Alles steht auf dem Spiel

Da kann einen tiefes Staunen packen. Ja – manchmal hat Gott verblüffende Wege, plötzlich ganz nah zu sein. Dass er jetzt nah sein möge, hier bei uns; dass wir seine Gegenwart spüren: Darum bitten wir in jedem Gottesdienst. So auch heute. Jesus Christus hat versprochen, bei uns zu sein, wenn wir uns in seinem Namen versammeln. Darauf vertrauen wir. Auch heute hören wir wieder uralte Worte aus der Bibel. Vertraut klingen sie. Schon oft gehört. Wir kennen diese Worte von unseren Müttern und Vätern im Glauben; wir kennen sie aus unterschiedlichen Situationen. Ob wir sie je so hörten, als seien sie eigens zu uns gesagt?

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Wunderschöne Worte sind das. Der Apostel Paulus schreibt sie in einem Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus – aus dem Gefängnis in Rom. Was diese Worte nicht sofort verraten: Hier geht's ums Ganze. Es geht um Leben und Tod. Alles steht auf dem Spiel. Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das unvergängliche Leben ans Licht gebracht, lese ich ein paar Zeilen weiter. "Nicht weniger als das, lieber Timotheus", schreibt Paulus, "nicht weniger als das will durch uns unter die Leute."

Aus der Ferne will der Apostel seinen Mitarbeiter stärken. Ihm noch einmal seinen Auftrag klar machen. Ihn der Wichtigkeit dieses Auftrags vergewissern. "Diese Nachricht, Timotheus, diese Nachricht muss durch uns in die Welt: Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das unvergängliche Leben ans Licht gebracht. Starke Worte. Sie nachzusprechen, verschlägt mir die eigene Sprache. Der Geist der Furcht meldet sich. Kann ich diesen großen Satz aus vollem Herzen so sagen? Verbreitet die Kirche tatsächlich diese Hoffnung? Woher die Kraft nehmen, gegen die vielen hässlichen Fratzen des Todes anzupredigen? Woher die Zuversicht gewinnen, das Leben trotz allem tatkräftig zu gestalten?

Nachsprechen genügt. Schon so bewegen die Worte etwas

Um mich herum – in der Familie, in der Nachbarschaft, in der weiten Welt – erlebe ich so viel, was lauthals widerspricht. Das weiß der Geist der Furcht. Und er ist geneigt, sich kleinmütig ins Bockshorn jagen zu lassen. Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das unvergängliche Leben ans Licht gebracht. Diese Worte weiterzusagen – als Protest gegen den Tod: Da verschlägt's einem tatsächlich die eigene Sprache. Turmhoch überragen sie unsere Erfahrung. Kilometerweit eilen sie unserem Glauben voraus.

Gott sei Dank müssen wir nicht für sie bürgen. Gott sei Dank müssen wir ihre Wahrheit nicht beweisen. Wir müssen ihnen noch nicht einmal aus vollem Herzen zustimmen können. Nachsprechen genügt. Schon so bewegen die Worte etwas. Einstimmen reicht. Bereits dadurch entfalten die Worte ungeahnte Kraft. Sie hervorsagen. Hervorsingen. Vielstimmig am besten. Immer wieder. Vielleicht ganz leise und stammelnd nur. Nicht wir müssen die Wahrheit tragen. Die Wahrheit trägt uns. Mitten in Furcht und Kleinmut tragen uns die alten, vertrauten Worte: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Auch in dir und mir ist er lebendig, Gottes Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Er ist nichts, was wir erwerben müssten; nichts, was wir machen könnten. Gott hat gegeben. Geschenkt. Durch den kleinen Jungen hat der Geist Gottes auf verblüffende und unerwartete Weise gesprochen: "Du brauchst keine Angst zu haben. Der Jesus hat nämlich meistens ziemlich gute Ideen." Uns allen hat er seinen Geist gegeben. Alles, liebe Gemeinde, alles läuft unweigerlich auf das unvergängliche Leben hinaus. So unglaublich es klingt: Das ist uns verheißen.

Die Kirche bringt die Verheißung unter die Leute

Seit Gott in Jesus unter uns lebte, seit Gott in Jesus den Tod erlitt – und seit dieser Tod nicht das letzte Wort behielt: Seitdem ist die Verheißung vom Sieg des Lebens in der Welt. Und sie gilt. Allen verneinenden Erfahrungen zum Trotz. Die Kirche bringt diese Verheißung unter die Leute. Sie gestaltet im Licht dieser Verheißung den Weg, der zum Leben führt. Dem Tod zum Trotz und durch alle Tode hindurch.

Viele verleihen dem Weg bunte Farben, attraktiven Glanz, bergende Wärme, handfeste Tatkraft und immer neue Klänge: in Schulen und Kindergärten, in Beratungsstellen und Polizeistationen, in Krankenhäusern und Kleiderstuben, bei der Militärseelsorge und auf Friedensdemonstrationen, betend zu Hause oder unermüdlich im Einsatz für Andere. Jeden Tag bringen die Menschen hier in Bethel, wo wir heute Gottesdienst feiern, den Weg des Lebens zum Leuchten. Ganz selbstverständlich leben, arbeiten und feiern sie zusammen. Ob mit oder ohne sichtbare Behinderung: Alle gehören mit auf den Weg. Ohne Ausnahme. Alle müssen dabei sein – oder es ist nicht der Weg des Lebens.

"Ein verlockender Weg ist das", lese ich bei Paulus zwischen den Zeilen. Ja – es ist, als wolle er seinen Mitarbeiter Timotheus auf diesen Weg zum unvergänglichen Leben locken: "Richte dich nicht ein in deiner Furcht. Du hast eine Nachricht weiterzugeben, auf die die Welt nicht verzichten kann. Du hast Hoffnung und Trost zu verbreiten, die niemand aus sich selbst zu schöpfen vermag. Alles ist dir dazu von Gott gegeben: Kraft, Liebe und Besonnenheit. Denn Christus ist in den Schwachen mächtig."

"Lassen Sie sich nicht verbiegen", mahnt die Frau

Weihnachten 2011 in Siegen. Unsere Diakonie hat wohnungslose Männer und Frauen zum Feiern eingeladen. Ein Buffet ist aufgebaut, das kaum eine Köstlichkeit vermissen lässt. Jedes Jahr macht sich dafür die Frauenhilfe einer anderen Gemeinde stark. Viele Wohnungslose sind gekommen. Der Anteil der Frauen und der ganz jungen Menschen wird immer größer. Ich lese die biblische Weihnachtsgeschichte. Selten spüre ich die Kraft des Evangeliums so unmittelbar und hautnah wie hier.

In der Stille danach springt einer auf; er gehört zu denen, die schon an unsere Pfarrhaustür kamen, als ich noch Kind war. "Jetzt haben sie Dich gekürt!", ruft er mit strahlendem Gesicht und schüttelt mir begeistert die Hand. "Jetzt haben sie Dich gekürt!" Er freut sich, als sei er selbst zum Präses gewählt worden. Selten trifft Liebe so unerwartet, so echt. Eine Frau mittleren Alters blickt mich sorgenvoll an. Ihr teurer Schmuck und ihr sorgfältig geschminktes Gesicht verraten: Sie hat bessere Tage gesehen."Lassen Sie sich nicht verbiegen", mahnt sie leise. "Oben zu sein verbiegt die Menschen." Besonnenheit, die saß. Ich werde diese Feier nicht vergessen. Ja – manchmal hat Gott verblüffende Wege, plötzlich ganz nah zu sein. Da kann einen tiefes Staunen packen. Gott gebe, dass uns solches Staunen nie vergeht.

Amen.