Ein Leihfahrrad gegen endlose Fußmärsche

Ein Leihfahrrad gegen endlose Fußmärsche
Wohnungslose sind in der Regel zu Fuß unterwegs. Für ein Velo, den Bus oder gar ein Auto fehlt ihnen das Geld. Immobilität hat für sie aber erhebliche Nachteile. Leihfahrräder der Diakonie können helfen.
24.01.2012
Von Sebastian Stoll

Wenn das Ferdinand-Weiß-Haus in Freiburg morgens um acht öffnet, haben viele seiner Besucher schon einen Gewaltmarsch hinter sich. "Obdachlose bevorzugen Schlafplätze, die geschützt sind und nicht zu weit außerhalb der Stadt liegen", sagt Klaus Fournell, der als Sozialpädagoge in der Wohnungslosen-Beratungsstelle des Diakonischen Werkes arbeitet. "Das sind zum Beispiel die Endhaltestellen der Straßenbahn." Auf sechs Kilometer schätzt Fournell einen durchschnittlichen Fußmarsch vom Schlafplatz bis zum Frühstück, das es in seiner Einrichtung gibt.

"Wenn jemand dann noch um 10 Uhr einen Termin im Jobcenter hat, wird es schwierig." Denn auch dorthin geht es nur zu Fuß. Wenn Wohnungslose aber den Termin beim Jobcenter verpassen, riskieren sie, dass ihnen die Behörde Hilfen sperrt. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass Wohnungslose Zeit hätten. Tatsächlich ist Obdachlosigkeit ein Fulltime-Job.

Mit dem Rad unterwegs

Um ihren etwa 100 Klienten das Leben zu erleichtern, haben die Mitarbeiter des Ferdinand-Weiß-Hauses deshalb begonnen, Leihfahrräder auszugeben: Sechs Stück stehen derzeit zur Verfügung. Gegen ein Pfand wie etwa einen Ausweis und eine geringe Gebühr können sich die Wohnungslosen ein Fahrrad tageweise oder sogar eine ganze Woche ausleihen.

50 Cent kostet ein Rad am Tag. "Das kann sich jeder leisten und macht zugleich klar, dass es sich bei dem Fahrrad um nichts handelt, was man einfach achtlos in die Ecke schmeißen kann", sagt Fournell. Gesammelt wurden die Fahrräder durch Spendenaufrufe in mehreren evangelischen Gemeinden der Stadt. Die Idee klingt simpel. Dennoch gibt es nach Angaben der Freiburger Diakonie nirgendwo in Deutschland ein vergleichbares Projekt.

Schneller von A nach B

Zu den Menschen, die davon profitieren, gehört etwa Marcel K., 37 Jahre. Oft ist sein Tag allein durch das Unterwegssein ausgefüllt. "Wer frische Wäsche haben will, geht normalerweise zum Schrank. Als Obdachloser muss man aber zur Kleiderstelle." Diese sei nicht nur einige Kilometer entfernt, sondern auch nur wenige Stunden am Tag geöffnet. "Ein Kleiderschrank hat dagegen 24 Stunden am Tag geöffnet."

Es sind Hunderte dieser Kleinigkeiten, die den Tagesablauf von Marcel K. diktieren. Er muss essen, schlafen, zum Arzt und auch zum Jobcenter. In einer Welt, in der selbst der Gang zur Toilette Kilometer kosten kann, bedeutet ein Fahrrad Halt. "Es ist jetzt einfach viel leichter, einen Termin wahrzunehmen", sagt er.

Öffentliche Verkehrsmittel sind keine Lösung

Nicht nur in Freiburg leiden Wohnungslose unter weiten Wegen. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Bielefeld handelt es sich um ein deutschlandweites Problem - noch dazu um eines, das den meisten Menschen kaum bekannt sei. Jeder Obdachlose habe Verpflichtungen und zugleich wenig Geld, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin der Organisation, Werena Rosenke. "Ein Auto haben die Leute definitiv nicht, also müssen sie sich zu Fuß fortbewegen oder mit dem öffentlichen Personennahverkehr." Das allerdings sei zwiespältig, denn viele Obdachlose sähen sich wegen ihres Geldmangels zum Schwarzfahren genötigt. "Wer Pech hat, wird dabei erwischt und bestraft."

Auch im Freiburger Ferdinand-Weiß-Haus hat man eher schlechte Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das liegt vor allem daran, dass die Einrichtung zwar immer ein Monatsticket zur Verfügung hat, das sie an ihre Klienten verleihen kann - aber eben nur eines. Für alle 100 Leute. Zwar seien im Hartz-IV-Regelsatz 18 Euro für Fahrten mit Bussen und Bahnen enthalten. "Aber selbst, wenn man das macht: Hier in Freiburg kostet ein Einzelticket 2,10 Euro. Man kommt also nur vier Mal zu einem Termin und zurück." Vier Fahrten - in einem Leben ohne Mittelpunkt ist das nichts.

epd