Augoustinos: "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt"

Augoustinos: "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt"
Metropolit Augoustinos (Lambardakis) ist das geistliche Oberhaupt der in Deutschland lebenden (über) 300.000 Griechen. Der 73-jährige Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes, des Verdienstordens von Nordrhein-Westfalen und des griechischen Ehrenordens 1. Klasse blickt mit Sorge auf die Entwicklung in seiner griechischen Heimat - aber auch auf die Hoffnungen von ungelernten Griechen, die meinen, in Deutschland schnell den heimatlichen Problemen entgehen zu können.
03.11.2011
Die Fragen stellte K. Rüdiger Durth

Die Euro-Krise hat plötzlich das problemlose Verhältnis zwischen Ihrer Heimat und Deutschland belastet. Spüren Sie und Ihre über 70 Gemeinden in Deutschland etwas von diesen Spannungen?

Metropolit Augustinos: In der Tat ist das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Griechen, die hier leben, unbelastet; eine Tatsache übrigens, über die man eigentlich nur staunen kann, wenn man sich überlegt, dass viele der hier lebenden Griechen – ich selbst übrigens auch – die Deutschen im 2. Weltkrieg in Griechenland erlebt haben mit allen negativen Konnotationen, die dazu gehören. Was nun die Gegenwart betrifft, weht sicherlich seit einigen Monaten ein rauerer Wind. Ich vermag aber nicht zu beurteilen, ob das, was von manchen Medien verbreitet wird, tatsächlich vorhandene Ressentiments wiedergibt oder erst schafft. Auch die Aussagen mancher Politiker tragen in diesen Tagen manchmal sehr populistische Züge; ich glaube ja, es ist für jemanden, der sich um eine Wiederwahl bemühen muss, einfacher, den Schwarzen Peter woanders zu suchen, als unbequeme Wahrheiten verkünden zu müssen. 

Wissen die Deutschen überhaupt, welche Opfer dem einfachen Griechen durch die Sparmaßnahmen im Alltag abverlangt werden?

Augoustinos: Ich glaube nicht. Wenn man sich die Nachrichten anschaut, sieht man häufig Demonstrationen in Athen und anderswo und viele gewinnen dann den Eindruck, die Menschen dort hätten den Ernst der Lage gar nicht erkannt und gehen deshalb auf die Straße. Aus meinen Gesprächen mit vielen Betroffenen weiß ich aber, dass in der Tat vielen Griechen starke Einschnitte drohen: Lohn- und Rentenkürzungen, Entlassungen, Rückgang der Kaufkraft, Schließung von kleinen und mittleren Betrieben usw. Dies kommt kaum in den Nachrichtensendungen vor.

Haben Sie umgekehrt Verständnis für die Deutschen, die Angst um die Stabilität des Euro haben und nicht für die Schulden anderer Länder der Euro-Zone aufkommen wollen?

Augoustinos: Ja natürlich, ebenso für die Slowaken und andere, die sagen, wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, warum sollen wir jetzt Bürgschaften abgeben. Ich glaube, es gilt hier einerseits immer wieder, auf das Prinzip der Solidarität innerhalb des einen Europas zu verweisen. Andererseits muss man ganz deutlich sagen: die Krise Griechenlands ist keine Naturkatastrophe, die unvermittelt über das Land hereingebrochen ist, sondern hausgemacht. (Da ich kein Finanzfachmann bin, vermag ich den Anteil, den die internationale Bankenkrise daran schuld ist, nicht zu beurteilen.) Was Griechenland betrifft, darf und muss man selbstkritisch sagen, wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, weil ein korruptes politisches System eine Selbstbedienungsmentalität geradezu begünstigt hat. Und gleichzeitig warne ich vor einer undifferenzierten Wiederholung von Klischees: eben so wenig wie alle Bayern trinkfest sind oder alle Schwaben reinlich, liegen nicht alle Griechen im Schatten der Zypressen, um Ouzo zu trinken.

"Mit den Menschen

reisen Ideen und Gefühle

hin und her"

 

Ist die Solidarität zwischen den in Deutschland lebenden Griechen und den Griechen in der Heimat durch die Euro-Krise gewachsen?

Augoustinos: Eine interessante Beobachtung, die ich seit einiger Zeit mache, ist das Zusammenwachsen der Griechen in Deutschland und in der Heimat. Durch familiäre Beziehungen, aber auch die vielen Flugverbindungen und anderes mehr ist Griechenland viel näher gerückt: nicht erst seit der Euro-Krise. Während früher meine Landsleute zum Beispiel höchstens einmal im Jahr nach Griechenland reisten, herrscht heutzutage ein reges Hin und Her, manchmal sogar für einen Arztbesuch oder eine Wochenendreise. Inzwischen kann man die beiden Gruppen der "Griechenland-Griechen" und der "Deutschland-Griechen" gar nicht mehr ganz akkurat voneinander trennen. Mit den Menschen reisen aber auch die Ideen und die Gefühle hin und her. Ich glaube, da es keine griechische Familie gibt, die nicht direkt oder indirekt von den so eben erwähnten Folgen der Euro-Krise betroffen ist, ist die Stimmung unter den Griechen hier wie dort die gleiche.

Verlassen nun mehr Griechen ihre Heimat und kommen nach Deutschland, um hier Arbeit zu finden?

Augoustinos: Leider muss ich hier mit einem eindeutigen Ja antworten. Täglich kommen verzweifelte Menschen an, übrigens nicht nur Rück-Rückkehrer, Leute also, die hier gelebt haben und nach Griechenland zurückgekehrt sind, wo sie jetzt keine Perspektive haben. Nein, es kommen auch – und das ist für mich viel tragischer – junge Menschen, die keine Deutschlanderfahrung haben, kein Deutsch sprechen, keine richtige berufliche Ausbildung haben und dementsprechend auch hier nicht sehr weit kommen können.

Was können Ihre Gemeinden hier tun, um Ihren Landleuten in der Heimat zu helfen oder den Neuankömmlingen hier in Deutschland unter die Arme zu greifen?

[listbox:title=Mehr im Netz[Webseite der Kommission der Orthodoxen Kirche in Deutschland]]

Augoustinos: Nicht nur in Griechenland, auch in vielen anderen orthodoxen Ländern, ist neben der eigenen (Groß-)Familie der Gemeindepfarrer der erste Ansprechpartner, wenn es Probleme gleich welcher Art gibt. Das gilt auch für die Neuankömmlinge aus Griechenland, wie mir meine Geistlichen berichten. Natürlich sind unsere Kirchengemeinden personell und materiell überfordert, wenn es darum geht, diese Personengruppe ausreichend zu unterstützen. Und doch geschieht es überall in der Bundesrepublik, weil überall Hilfe suchende Personen ankommen. Für mich als jemand, der seit fünf Jahrzehnten in Deutschland lebt, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass unsere Priester heutzutage auf einmal wieder jene Tätigkeiten der sozialen Erstversorgung von Migranten ausüben müssen, die es vor 30, 40 oder 50 Jahren schon einmal gab. In Kürze werden wir übrigens unsere 42. Priestertagung in Bad Boll haben; da wird es genau um diese und andere Veränderungen des priesterlichen Berufs im 21. Jahrhundert gehen.

"Meistens hilft

die ausgestreckte Hand

mehr als der erhobene Zeigefinger"

 

Wie stark ist Ihre Kirche in Griechenland von den staatlichen Sparmaßnahmen betroffen?

Augoustinos: Bekanntlich gehört die Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland zum Ökumenischen Patriarchat, das seinen Sitz in Konstantinopel (Istanbul) hat. Die Kirche in Griechenland ist eine eigenständige – wir sagen: autokephale – Kirche, mit der wir organisatorisch oder strukturell nichts zu tun haben, selbst wenn wir den gleichen Glauben haben, die gleiche Sprache sprechen und – wie gesagt – als Volk zusammengehören. Wie ich von meinen Kollegen aus Griechenland höre, trifft und betrifft diese Krise natürlich auch die Kirche. Fatal ist aber auch der Zeitpunkt, zu dem dies geschieht. Es wird nämlich zur Zeit eine staatskirchenrechtliche Debatte über eine mögliche Trennung von Kirche und Staat in Griechenland geführt, bei welcher der finanzielle Druck, der auf dem Staat und auf der Kirche lastet, überhaupt nicht hilfreich ist. Denn Populisten gibt es auch in Griechenland, die sich etwa durch lautstarke Forderungen nach Enteignung des Kirchenbesitzes, Abschaffung der staatlichen Besoldung des Klerus und ähnlichem hervortun, ohne die Gesamtzusammenhänge zu kennen oder zu nennen.

Was können die deutschen Kirchen (und der Ökumenische Rat der Kirchen) tun, um Ihrem Land in seiner schweren Krise zu helfen?

Augoustinos: Nun, es wird sicher nicht darum gehen, CARE-Pakete zu schicken oder Sammlungen zu veranstalten. (Und ich hoffe, das wird auch langfristig nicht nötig sein.) Ich glaube, es geht vielmehr darum, Bewusstsein zu schaffen bzw. Bewusstsein zu verändern. Der Gedanke des vereinigten Europas hatte ja ursprünglich durchaus auch eine christliche Motivation, wenn ich an seine Pioniere wie Robert Schuman oder Konrad Adenauer denke. Ich meine damit nicht das christliche Bollwerk gegen den Islam oder den Atheismus, sondern die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität, des Mitleidens mit den Schwächeren und der tätigen Hilfe. Hier kann noch einiges geschehen, um diese Einstellung wieder heimisch werden zu lassen.

Was können die Deutschen persönlich tun, um Ihrem Land zu helfen - beispielsweise ihren Urlaub in Griechenland verbringen, griechische Produkte kaufen?

Augoustinos: Zunächst: Was die Formulierung "Ihr Land" betrifft, halte ich es hier mit Ignatz Bubis und sage (vielleicht etwas vorlaut): "Deutschland ist mein Land!" Zur Frage selbst: Natürlich wird es Griechenland gut tun, wenn man dort den Urlaub verbringt oder einkauft. Und ich meine das nicht nur finanziell, sondern auch emotionell. Griechenland braucht derzeit Empathie. Oder, um es mit Winston Churchill zu sagen: meistens hilft die ausgestreckte Hand mehr als der erhobene Zeigefinger...

"Was in Griechenland passiert,

ist auch eine moralische, ja,

eine spirituelle Krise"

 

Wird Griechenland in absehbarer Zeit seine Krise überwinden oder letztlich doch aus der Euro-Zone ausscheiden?

Augoustinos: Ich habe es bereits angedeutet: was in Griechenland passiert, ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine moralische, ja, eine spirituelle Krise. Hier mache ich mir auch die größten Sorgen, wie diese alte Kulturnation zu ihren eigenen Werten und Prinzipien zurückfinden kann. Und wer wird da, um mit einem Bild des Alten Testamens zu sprechen, der Moses sein, der sein Volk durch die Wüste führt? Die mumifizierte Politik sicher nicht! Was den Euro betrifft: Ich bin, wie gesagt, kein Finanzfachmann; ich halte es allerdings schlechterdings für ausgeschlossen, dass man diesen riesigen Schritt zurück in Griechenland machen und im restlichen Europa zulassen wird.

Ganz persönlich gefragt: Hat Ihr persönliches Verhältnis zu den Deutschen durch die Euro-Debatte gelitten?

Augoustinos: Manchen meiner Landsleute geht es so. Sie sehen sich durch die Ereignisse der letzten Monate um die Früchte jahrzehntelanger Arbeit in Sachen Integration und Völkerverständigung gebracht. Als Grieche kenne ich allerdings den Mythos des Sisyphus, der zur Strafe einen Felsblock einen steilen Hang hinaufrollen sollte und diesen jedes Mal kurz vor Erreichen seines Ziels aus den Händen verlor, so dass er wieder von vorne anfangen musste. Und als orthodoxer Christ kann ich nicht resignieren. Wir werden den Stein der Versöhnung und der Freundschaft zwischen Deutschen und Griechen wieder den Berg hoch rollen.


Der Metropolit Augoustinos von Deutschland und Exarch von Zentraleuropa wurde 1938 in Chania auf Kreta geboren. Er studierte an der Theologischen Hochschule Chalki und ist seit November 1980 Metropolit von Deutschland.