Der Papst, die Reformation und die Heilung der Erinnerungen

Der Papst, die Reformation und die Heilung der Erinnerungen
Vor einem Monat besuchte Papst Benedikt XVI. Deutschland. In Berlin traf er die Spitzen des Staates und hielt im Bundestag eine viel beachtete Rede. In Erfurt, wo Martin Luther einst als Mönch wirkte, sprach das katholische Kirchenoberhaupt mit führenden Vertretern des deutschen Protestantismus. Die Begegnung rief ein lebhaftes Echo hervor. Im Gespräch mit evangelisch.de zieht der Braunschweiger Landesbischof Friedrich Weber, Chef der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), eine Bilanz. Weber war der einzige evangelische Vertreter, der bei dem Gespräch im Kapitelsaal des Erfurter Augustinerklosters eine Frage an den Papst richtete.
22.10.2011
Die Fragen stellte Bernd Buchner

Herr Landesbischof, was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ergebnisse des Papstbesuchs?

Friedrich Weber: Für uns war zunächst der Ort der Begegnung wichtig, denn Erfurt hat für die evangelischen Christen eine besondere Bedeutung. Martin Luther hat hier seine besondere theologische Prägung erfahren – er kommt dort in Kontakt zu Leuten wie Staupitz, lernt die augustinische Gnadentheologie kennen, die ihn auf dem Weg zu den 95 Thesen maßgeblich prägen wird. Dass der Papst 2011 Erfurt aufsuchte, ist ein Gegenbesuch im Abstand von 500 Jahren – 1511 war Luther im Auftrag seines Ordens in Rom. Das ist die symbolische Dimension.

Bedeutend ist, dass sich der leitende Geistliche der deutschen evangelischen Kirche und der leitende Geistliche der katholischen Weltkirche auf Augenhöhe begegnet sind. Der Protestantismus hatte in Erfurt auch das Selbstbewusstsein, die Rede im Gottesdienst durch eine Frau halten zu lassen, die nicht einmal Theologin ist. Das war ein massives Signal, ein angemessener Ausdruck von Christentum und von Verantwortung in dieser Zeit.

Benedikt XVI. hat sich in Erfurt auch zu Luther und zur Reformation geäußert, allerdings nicht öffentlich.

Weber: Ja, ich habe als bedauerlich empfunden, dass sich die Äußerungen, die er hinter verschlossenen Türen im Kapitelsaal gemacht hat, später in keiner Weise wiederholten. Und ich habe es auch bedauert, dass der Papst auf meine Frage, ob man nicht zu ganz konkreten Schritten kommen könne, etwa in der gemeinsamen Bewertung der Reformation, nicht konkret geantwortet hat. Ich erinnere daran, dass wir 1980 nach der Begegnung mit Johannes Paul II. in Mainz das Projekt "Lehrverurteilungen – kirchentrennend?" in Angriff nahmen.

Nun war die Frage nach der Reformation immerhin auf dem Tisch, und wir gehen ihr natürlich nach. Auch aus der katholischen Delegation hieß es, das sei ein wichtiges Thema – was bedeutet die Reformation, ist sie nur Spaltung oder nicht auch ein Akt der Freiheit, die sich im Evangelium gründet und Gestalt gewinnt? Auch für die katholische Kirche ist ja vieles von dem, was die Reformation ausmachte, inzwischen längst Wirklichkeit geworden. Das darzustellen, sich zu vergewissern und daran gemeinsam zu arbeiten, wäre eine schöne Sache.

"Wie sind wir miteinander umgegangen,

wo haben wir uns gegenseitig

nicht nur Freundlichkeiten zugefügt?"

 

Der Lutherische Weltbund und der Vatikan erarbeiten gerade ein Dokument zum Reformationsverständnis, das nächstes Jahr veröffentlicht werden soll. Was kann darin stehen?

Weber: Wenn es gut geht, wird das Dokument bei den 95 Ablass- oder Bußthesen einsetzen. Diese werden immer sofort mit der Kirchentrennung in Verbindung gebracht. Dort ließe sich ansetzen und fragen, wie weit das ganze Leben eine Buße sein soll – nicht im Sinne einer niederdrückenden und kleinmachenden Buße, sondern als Freiheit. Der Mensch erinnert sich dessen, was in seinem Leben schief gelaufen ist, und versucht, das zu bewältigen.

Im Blick auf die Kirchen könnte das heißen: Wie sind wir miteinander umgegangen, wo haben wir uns gegenseitig nicht nur Freundlichkeiten zugefügt bis in die letzten Jahre hinein? Wir haben uns einiges angetan, was sich in einem Projekt "Healing of Memories" (Heilung der Erinnerungen) bearbeiten ließe. Das könnte man – wir haben das bereits angeregt – mit einem ökumenischen Vespergottesdienst am Ostermontag 2017 zum Abschluss bringen.

Der Papst hat in Erfurt gesagt, Ökumene funktioniere nicht so wie bei Verhandlungen zwischen Staaten oder Parteien, wo man Kompromisse verabrede. Aber ist das wirklich so, dass man in den zentralen theologischen Fragen Kompromisse anstrebt, bei denen beide Seiten Abstriche machen müssten?

Weber: Vom Grundansatz des Papstes her ist das ein großes Missverständnis. Es geht uns überhaupt nicht darum, etwa in den Lehrgesprächen der VELKD mit der katholischen Bischofskonferenz, einen Kompromiss zu erarbeiten. Wir sollten vielmehr das, was wir in den unterschiedlichen Konfessionen als Wahrheit erkannt haben, miteinander besprechen und auch an der Wahrheit der anderen Anteil zu gewinnen versuchen. Aber es geht nicht um einen Kompromiss, bei dem man die Spitzen der Wahrheit und der Einsicht wegschneidet. Das kann man am Biertisch machen, aber nicht in der seriösen, theologisch verantwortlichen Arbeit.

Insofern hat das Bild, das der Papst verwendete, auch innerevangelisch leider sehr viel Ärger erzeugt. Einige verstanden das als Bewertung nach dem Motto: Was ihr da macht, ist kompromisslerisch. Das ist aber nicht unseres. Wir sind keine Kompromissler, sondern wir fragen danach, ob sich die Wahrheit des Evangeliums in den jeweiligen Zeiten und Kulturzusammenhängen nicht unterschiedlich ausdrückt.

Bei Abendmahl und Eucharistie etwa ist ein "Kompromiss" schwer vorstellbar.

Weber: Ja, die Frage der gegenseitigen Einladung ist ein gutes Beispiel. Wir sagen selbstverständlich, aufgrund unseres Verständnisses laden wir katholische Christen zum Abendmahl ein. Das werden wir auch weiterhin bewusst und überzeugt tun – weil wir davon überzeugt sind, dass das ein guter, im Glauben zu verantwortender Weg ist. Ein Kompromiss würde an dieser Stelle ja bedeuten, dass wir keine Einladung mehr aussprechen dürften. Das werden wir nicht tun.

Präses Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), im Gespräch mit Papst Benedikt XVI. in Erfurt. Foto: dpa

In der Frage des Abendmahls für konfessionsverbindende Ehepaare, die derzeit besonders diskutiert wird, hat der EKD-Ratsvorsitzende, Präses Nikolaus Schneider, nach der Begegnung mit dem Papst gesagt, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen. Gibt es Bewegung?

Weber: Die dauernde Behauptung, dass konfessionsverschiedene Ehepaare durch die römisch-katholische Weigerung am gemeinsamen Abendmahl gehindert werden, ist ja nicht korrekt.

Ich habe das so noch nicht ausgesprochen, aber das ist einfach nicht korrekt, denn dadurch wird ja der Eindruck erweckt, als mäßen wir dem evangelischen Abendmahl weniger Wert bei und hielten das katholische für das eigentliche. Das ist nicht so. Ein gemischt-konfessionelles Ehepaar, das im katholischen Kontext nicht gemeinsam zur Eucharistie zugelassen wird, ist bei uns eingeladen und erhält dort die Fülle des Abendmahls.

Das ist das eine. Das andere ist, dass Präses Schneider darauf besteht, dass in dieser Frage weiter diskutiert wird. Bei unseren bevorstehenden Gesprächen mit den katholischen Bischöfen werden wir nachfragen – und diese Nachfrage sehe ich ähnlich wie Nachfragen, die immer wieder einmal auch an uns gerichtet werden. Nur darf nicht der Eindruck entstehen, als wären wir selbst der Meinung, wer das Abendmahl als Geschenk und in seiner ganzen Fülle erleben wolle, müsse zur katholischen Eucharistie gehen. Das muss man nicht.

"Den theologischen Kontakt

zu den Katholiken abbrechen?

Das ist großer Unfug"

 

Sie haben die Enttäuschung angesprochen, die nach Erfurt zu spüren war. In den Landeskirchen hört man da und dort, dass man den theologischen Kontakt zu den Katholiken auch ganz abbrechen könne. Wie stehen Sie dazu?

Weber: Das ist großer Unfug. Eine solche Haltung entspricht überhaupt nicht den ökumenischen Realitäten und auch nicht dem, was man vom Papstbesuch erwarten konnte. Wenn im Vorfeld aus der evangelischen Kirche, auch von leitenden Persönlichkeiten, Erwartungen geäußert wurden wie etwa: Der Papst muss uns jetzt endlich anerkennen, oder er muss Luther aus dem Bann holen, zeugt das von Unkenntnis der Situation – und auch von Schlichtheit im Umgang mit dem, was für die katholische Kirche Wahrheit ist. Das kann man nicht ernst nehmen.

Wenn man die Erwartungen im Vorfeld so hochzieht und die Medien nehmen das auf, mus man sich nicht wundern, wenn der Papst dann sagt: Ein Gastgeschenk habe ich nicht dabei. Das war natürlich eine harsche Äußerung, aber ich war nicht erschrocken, muss ich ganz offen sagen. Man kann daraus sogar die Folgerung ziehen: Wenn man die Messlatte zu hoch legt, möchte man vielleicht sogar, dass die Sache scheitert. Das wäre natürlich fatal.

Ich würde da aber keine gravierenden Schlüsse ziehen. Wir haben vieles von dem gewusst, was dann eingetroffen ist – etwa dass Benedikt XVI. eine stärkere Neigung zur Orthodoxie hat als zu den reformatorischen Kirchen. Da muss man nicht beleidigt sein. Auf der anderen Seite ist auch der Vorwurf falsch, die EKD sei dem Papst liebedienerisch hinterhergelaufen. Das sind bedauerliche Fehleinschätzungen im evangelischen Lager.

Wie haben Sie den Papst ganz persönlich erlebt?

Weber: Ich habe ihn ja im Januar bei der Audienz im Vatikan erlebt, im kleinen Kreis der VELKD-Kirchenleitung, und jetzt noch einmal im Kapitelsaal und in der Augustinerkirche in Erfurt. Er ist geistig sehr präsent. Eigentlich hätte er wahnsinnig müde sein müssen, wenn man sich den Terminplan ansieht. Für einen 84-Jährigen ist es ungeheuer, was an Geistesgegenwart und Präsenz von ihm erwartet worden ist. Körperlich wirkte er zugleich eher zerbrechlich. Wie weit das Erschöpfung war oder einfach altersbedingt, sei's drum. Aber dass in seinen Händen noch viele Fäden zusammenlaufen, davon bin ich überzeugt.

Wie wird die bevorstehende EKD-Synode in Magdeburg den Papstbesuch nachbereiten, was erwarten Sie?

Weber: Es wird natürlich genau jene Diskussionen geben, über die wir gesprochen haben. Wie soll sich das Verhältnis zur katholischen Kirche weiterhin gestalten? Es wird sicherlich da und dort die Frage aufkommen, ob wir nicht auch andere Partner haben, um die wir uns intensiver kümmern müssten, und man wird fragen, ob die liberalen Katholiken nicht in einer ganz anderen Weise enttäuscht wurden. Wir werden auf jeden Fall auch das Stichwort "Ökumene der Gaben" aufnehmen.

Präses Schneider hat deutlich gesagt, dass wir keine Ökumene der Profile, sondern der Gaben wollen. Das ist eine positive Wendung. Ich bin als kritischer Beobachter davon überzeugt, dass manche der Enttäuschungen, die wir jetzt beschreiben, selbstgemachte sind – dadurch, dass man Erwartungen formulierte, die völlig abstrus waren. Dann werden wir unsere Gespräche mit der katholischen Seite auf den verschiedenen Ebenen weiterführen.


Prof. Dr. Friedrich Weber (62) zählt zu den renommiertesten evangelischen Ökumenikern in Deutschland. Er ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig, Catholica-Beauftragter der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK). Weber lehrt als Honorarprofessor Kirchengeschichte an der Technischen Universität Braunschweig.