Atomkraft? Ja bitte - mit deutschem Geld in Brasilien

Atomkraft? Ja bitte - mit deutschem Geld in Brasilien
Offiziell rüttelt hierzulande niemand mehr am Aus für die Atomkraft. Doch hinter verschlossenen Türen will die Bundesregierung in Brasilien mithilfe deutscher Steuergelder den Bau eines Kernkraftwerks mit veralteter Technik ermöglichen. Von Doppelmoral will man in Berlin aber nichts wissen.
23.09.2011
Von Thomas Östreicher

"Ohne Zweifel, die dramatischen Ereignisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt. Sie waren ein Einschnitt auch für mich ganz persönlich."

Bei ihrer Regierungserklärung am 9. Juni 2011 gebrauchte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) starke Worte und erklärte ihre politische Kehrtwende hin zum Ausstieg aus der Atomtechnologie mit einem radikalen Lernprozess nach dem japanischen Super-GAU: "Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen; denn das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt", sagte die Physikerin Merkel vor dem Parlament. "Unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert."

"Die Regierung macht sich unglaubwürdig"

Die politische Realität sieht anders aus. Präziser wäre die Formulierung: Merkels Haltung zur Kernenergie in Deutschland hat sich verändert. Zwar wurde die Energiewende eingeleitet, ein Elf-Jahres-Plan erstellt und inzwischen sogar die Idee eines bis zum Komplettausstieg einsatzbereiten Atomkraftwerks "in Reserve" fallen gelassen, doch endet das grüne Engagement der Bundesregierung in der Energiefrage faktisch an den Landesgrenzen.

"Die Bundesregierung will offenbar für den Bau des umstrittenen brasilianischen Atomkraftwerks Angra 3 eine Hermesbürgschaft übernehmen", meldete die "Süddeutsche Zeitung" am 10. September. Der Hintergrund: Bereits Anfang 2010 hatte der zuständige interministerielle Ausschuss eine Grundsatzzusage für die Bürgschaft erteilt. Diese war Ende Juli 2011 ausgelaufen und wurde nicht automatisch verlängert, da der Haushaltsausschuss nach Fukushima eine Neubewertung verlangt hatte.

In diesem Zusammenhang steht auch das von der früheren rot-grünen Bundesregierung eingeführte und von CDU/CSU/FDP wieder abgeschaffte Exportverbot für Nukleartechnologie. Energiewende? Das Schlagwort verliert an Überzeugungskraft angesichts des Vorhabens der Bundesregierung, bei der Finanzierung von Angra 3 wesentlich mitzuwirken. "Viel unglaubwürdiger kann die Regierung Merkel sich nicht machen", sagt Fritz Mielert vom Kampagnennetzwerk Campact.

Veraltete Reaktortechnik zum Bau von Atombomben?

Campact und andere Anti-Atom-Initiativen wie urgewald weisen auf etliche Ungereimtheiten des Projekts Angra 3 hin:

  • Das Atomprogramm der Atomkraftwerke Angra 1 bis 3 wurde noch unter der brasilianischen Militärdiktatur geplant – mit dem erklärten Ziel, eine Atombombe zu bauen. Den Atomwaffensperrvertrag hat Brasilien bis heute nicht unterzeichnet, ein Atombombenbau mit Hilfe der Angra-Kraftwerke würde nicht gegen geltendes Recht verstoßen.
  • Der Angra-Komplex liegt in einer erdrutschgefährdeten Bucht und in der einzigen erdbebengefährdeten Region Brasiliens. 2008 wurde dort ein Erdbeben der Stärke 5,2 registriert.
  • Bei einer Prüfung nach der Fukushima-Katastrophe wurde festgestellt, dass der vom deutschen Siemens-Konzern gelieferte Meiler Angra 2 seit zehn Jahren ohne Betriebsgenehmigung läuft. Auch die Katastrophenpläne für den Reaktor 3 gelten als unzureichend, da er beispielsweise nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert ist.
  • Ein solcher Druckwasserreaktor der zweiten Generation entspreche dem schon lange veralteten technischen Stand des bayerischen Altreaktors Grafenrheinfeld, sagen Experten. Genau dieses Atomkraftwerk wird nach den Plänen der Bundesregierung bereits 2015 abgeschaltet - in Deutschland.

Philipp Rösler ist dafür

"Gerade in Sachen Katastrophenschutz und Sicherheitsstandards birgt der brasilianische Atomsektor enorme Risiken in sich. So etwas darf die Bundesregierung nicht mit einer Bürgschaft unterstützen", forderte unlängst Sérgio Dialetachi, brasilianischer Energieexperte.

Von der Zustimmung der Bundesregierung und des federführenden Wirtschaftsministers Philipp Rösler (FDP) aber ist Angra 3 abhängig: Die Kreditgeber, Finanzbanken aus Frankreich, vergeben ihr Geld nur dann an Brasilien, wenn das Geschäft über Bürgschaften etwa aus Deutschland abgesichert sind. Derartige Bürgschaften müssen den Haushaltsausschuss des Bundestages passieren. Verweigern dessen Mitglieder formal die Kenntnisnahme, kommt dies einem Veto gleich.

Diese Möglichkeit nutzte die schwarz-gelbe Mehrheit der Parlamentarier nicht. Am vergangenen Mittwoch wurde das Thema eine Woche früher als geplant zur Abstimmung aufgerufen. Ergebnis: Die Zustimmung zur Bürgschaft erfolgt "unter Vorbehalt". Ein Regierungsgutachten soll bis Dezember feststellen, ob in Brasilien Lehren aus der Katastrophe von Fukushima gezogen wurden.

Ein offenbar peinliches Thema

Den Abgeordneten selbst ist das Thema, so scheint es, eher unangenehm. evangelisch.de hat schriftlich bei allen Ausschussmitgliedern der Regierungsfraktionen nachgefragt: wie ihre Position zur umstrittenen Finanzierungsgarantie für das brasilianische Atomkraftwerk ist und wie sich das Vorhaben aus ihrer Sicht zum proklamierten Atomausstieg der Bundesregierung verhält.

Die meisten Parlamentarier antworteten schlichtweg nicht**. Drei von ihnen fassten sich demonstrativ kurz:

  • Florian Toncar (stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion) "ist es aus terminlichen Gründen nicht möglich (…) Ihre Presseanfrage zu bedienen".
  • Claudia Winterstein (FDP): "Für dieses Thema ist der Abgeordnete Otto Fricke der richtige Ansprechpartner." (Fricke beantwortete die Anfrage ebenfalls nicht, d. Red.)
  • Eckhardt Rehberg (CDU) "wird zu diesem politischen Aspekt keine öffentliche Stellungnahme abgeben".

"Besonders strenge Prüfungsanforderungen"

Der CDU-Abgeordnete Klaus-Peter Willsch schweigt auf Anfrage nicht, sondern versichert: "Die Bundesregierung ist sich der besonderen Sensibilität von Nuklearprojekten bewusst." Bei Exportkreditgarantien für Kernkraftwerke seien "besonders strenge Prüfungsanforderungen anzulegen". Die Bundesregierung habe "neben der Umweltverträglichkeitsprüfung auch das nukleare Sicherheitskonzept, den nuklearen Brennstoffkreislauf und die Betriebsführung durch einen externen Experten überprüfen lassen".

Willsch stellt auch einen "Stresstest" für Kernkraftwerke in G20-Staaten wie Brasilien in Aussicht. "Dabei ist es natürlich Sache Brasiliens, über seine eigene Strategie zur nationalen Energieversorgung zu entscheiden", so der Christdemokrat. Zumal sich in Brasilien eine Beschäftigungsmöglichkeit nicht mehr benötigter deutscher Experten für Nuklearenergie eröffne.

Dabei sein ist alles ...

Sein Kollege Norbert Barthle, Vorsitzender der AG Haushalt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, argumentiert ähnlich. Er schreibt in einer Stellungnahme per E-Mail, die OECD-Umweltleitlinien seien "alleiniger Maßstab bei der Prüfung von Anträgen auf Exportkreditgarantien" als Instrument der Wirtschaftsförderung. Eine Verweigerung von Exportkreditgarantien wie für das brasilianische Atomkraftwerk werde nur dazu führen, "dass deutsche Exporteure sich im internationalen Wettbewerb nicht (…) beteiligen können, ohne dass dies auf die Entscheidung über die Errichtung von Nuklearanlagen im Ausland einen Einfluss hätte."

Barthle weiter: "Durch den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie, wie Deutschland ihn jetzt - weltweit einmalig - betreibt, ändert sich daran nichts." Im Klartext: Wenn schon anderswo neue Atomkraftwerke gebaut werden sollen, dann wenigstens mit deutscher Beteiligung. Deutschland habe schließlich "auch nicht das Recht, anderen, souveränen Staaten vorzuschreiben, wie diese ihre Energieversorgung sicherstellen", so Barthle.

... doch um die Verantwortung reißt sich niemand

In Umfragen befürworten drei von vier Befragten den Atomausstieg. Ebenso viele halten Angela Merkels Energiewende für wahltaktisch begründet. Auf schriftliche Nachfrage von evangelisch.de nahmen weder die Bundesregierung noch das Wirtschaftsministerium* Stellung zur Finanzbürgschaft für Angra 3.

Das Projekt ist gleichwohl längst noch nicht gesichert. Denn trotz eines geplanten Beitrags der brasilianischen Entwicklungsbank über etwa 2,7 Milliarden Euro und des Hermes-gedeckten Beitrags aus Deutschland von 1,3 bis 1,5 Milliarden Euro ist die Finanzierung der Gesamtsumme von mindestens 4,5 Milliarden Euro noch immer offen. Im Moment scheint man sich international um die Verantwortung für den Bau von Kraftwerken mit überholter Technik nicht gerade zu reißen.

Das nun bestellte Sicherheitsgutachten soll in wenigen Wochen vorliegen, anschließend entscheidet die Bundesregierung endgültig über die Deckungszusage. Union und FDP müssten nun "Farbe bekennen, ob ihr Atomlobbyismus im Ausland auch nach der Katastrophe in Fukushima weitergeht", sagte das Haushaltsausschuss-Mitglied Sven-Christian Kindler von den Grünen.

Mancher Entscheidungsträger in der Industrie ist da schon weiter. Anfang vergangener Woche verkündete Siemens-Chef Peter Löscher in einem "Spiegel"-Interview den "Totalausstieg" seines Konzerns aus dem Atomgeschäft - als Antwort "auf die klare Positionierung von Gesellschaft und Politik in Deutschland zum Ausstieg aus der Kernenergie". Löscher lässt keinen Zweifel: "Das Kapitel ist für uns abgeschlossen." Jetzt muss sich nur noch Angela Merkel selbst beim Wort nehmen. 


*Nachtrag: Ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums äußerte sich nach Veröffentlichung dieses Beitrags (elf Tage nach der Anfrage von evangelisch.de) zum Thema Angra 3. Seine schriftliche Stellungnahme ist in wesentlichen Teilen wortidentisch mit der Stellungnahme des CDU-Abgeordneten Klaus-Peter Willsch wie oben zitiert. Die Red.

**Zweiter Nachtrag: Der Hamburger Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse (CDU) antwortete Mitte Oktober, einen Monat nach der redaktionellen Anfrage, per Brief: "Meine Meinung ist, dass Deutschland nach seinem Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie im eigenen Land auch keine Bürgschaften mehr für den Export dieser Technik geben sollte." Er halte es für "sehr wünschenswert, wenn es gelänge, die brasilianische Regierung davon zu überzeugen, von diesem Projekt Abstand zu nehmen". Die Red.


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.