Genügt das Naturrecht als Begründung für Werte?

Genügt das Naturrecht als Begründung für Werte?
Die Rede des Papstes im Bundestag war eine akademische Vorlesung. Benedikt XVI. griff auf die Vernunft beziehungsweise das Naturrecht zurück, um Werte in einer pluralen Gesellschaft zu begründen. Ein bekanntes Denkmuster der katholischen Tradition, das Protestanten nicht ohne weiteres teilen würden.
22.09.2011
Von Ralf Peter Reimann

In welcher Rolle spricht der Papst im Bundestag? Als Staatsoberhaupt des Vatikans? Benedikt XVI. selbst gibt die Antwort darauf: als Bischof von Rom, der die weltweite Verantwortung für die Katholiken trägt und als solcher Völkerrechtssubjekt ist. Seine Rede ist allerdings eher ein akademischer Vortrag, der Papst spricht eigentlich als Professor.

Daher finden sich in der Rede keine konkreten Handlungsanweisungen zu den derzeit international diskutierten Problemen. Die Wirtschaftskrise, Friedensethik, Entwicklungspolitik spart er aus, die Bewahrung der Schöpfung bemüht er nur als ein Beispiel, ohne weiter konkret zu werden. Auch auf kirchliche Themen wie Missbrauch oder Ökumene geht er nicht ein – der Papst spricht philosophisch abstrakt. Er hätte die Rede auch im Hörsaal einer Universität halten können.

Unterschiedliche theologische Begründungszusammenhänge

Benedikt XVI. stellt grundlegende Fragen, auf welchem Fundament unser Staat, unsere Gesellschaft und unsere Kultur fußt. Wie lassen sich die Menschenrechte heute begründen? In welcher Wertegemeinschaft steht Europa? Gibt es auch für den demokratischen Gesetzgeber Grenzen, die er nicht überschreiten darf?

Richtig ist der historische Rückblick, dass unsere deutsche – und auch europäische – Kultur ihre Wurzeln bildlich gesprochen in Jerusalem, Athen und Rom hat, also im Christentum, der Demokratie und der antiken Philosophie hat. Auch die europäische Aufklärung ist Bestandteil dieser Kultur.

Wie lassen sich allerdings in einer pluralen Gesellschaft diese Werte begründen, die traditionell aus dem Christentum heraus begründet werden?

Christen – ob evangelisch oder katholisch - wissen darum, dass bestimmte Güter menschlicher Verfügung entzogen sind und der Mensch bestimmte Grenzen nicht überschreiten darf, daher setzen sich beispielsweise Christen aller Konfessionen für den Schutz des Lebens ein. Sie berufen sich dabei jedoch auf unterschiedliche theologische Begründungszusammenhänge – dies zeigt auch die Rede des Papstes deutlich.

Rhetorische Frage nach dem Schöpfergott

Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität – so Benedikt XVI. - sei es entscheidend, dass Vernunft und Natur in ihrem Zueinander die für alle gültige Rechtsquelle sei. Daher gelte dieses Naturrecht für alle Menschen und müsse Rechtsgrundlage jeder Gesellschaft sein. Rhetorisch fragt der Papst: "Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus (Schöpfergott) voraussetzt?" Daher sei dieses Naturrecht Grundlage für den freiheitlichen Staat.

Führt die Vernunft zu einer Erkenntnis, dass es einen Schöpfergott gibt? Diese Frage wurde in der protestantischen Theologie im zwanzigsten Jahrhundert unter dem Stichwort "natürliche
Theologie" verhandelt – und ist von den meisten führenden protestantischen Theologen verneint worden, so zum Beispiel von Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik (KD IV/1, 154): "Es gibt kein Naturrecht, das, als solches erkennbar, zugleich göttlichen Charakter trüge, göttliche Verbindlichkeit hätte, kein Gesetz und Gebot Gottes, das in des Menschen Geschöpflichkeit als solcher vorläge."

Die Diskussion muss jetzt losgehen

Wie lassen sich in einer pluralen Gesellschaft, in der Christen und Nicht-Christen zusammen leben, gemeinsame Werte begründen? Der Rückgriff auf die Vernunft beziehungsweise das Naturrecht ist eine mögliche Antwort aus der katholischen Tradition. Protestantische Theologen würden Werte anders begründen. Auch Nicht-Christen argumentieren nicht mit einer natürlichen Gotteserkenntnis. An dieser Stelle könnte jetzt eine spannende Diskussion beginnen.

Die Väter (und wenigen Mütter) des Grundgesetzes konnten 1949 als Konsens in der Präambel des Grundgesetzes folgende Grundübereinstimmung formulieren: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, …" Dieser Konsens ist heute gesellschaftlich nicht mehr gegeben. Die Rede des Papstes war ein Diskussionsbeitrag dazu, worauf das Recht fußt und welche Grenzen der Gesetzgeber hat.

Die Rede war sehr philosophisch – er hätte sie auch im Hörsaal einer Universität halten können. Im Bundestag klatschten die Abgeordneten und Gäste und eilten aus dem Plenarsaal. In einer Universität hätte jetzt erst die Diskussion begonnen.


Ralf Peter Reimann ist Pastor und arbeitet bei evangelisch.de.