Das Fernsehen wird zum Nebenbei-Medium

Das Fernsehen wird zum Nebenbei-Medium
Voller Redundanzen, Übertreibungen, Vereinfachungen: Das Fernsehen ist für ein Publikum gemacht, das ihm nicht seine volle Aufmerksamkeit schenkt, stellt Medienexperte Stefan Niggemeier fest. Und tatsächlich: Fast 52 Prozent der Deutschen lesen, surfen im Internet oder erledigen den Haushalt, während die Glotze läuft. Vor allem für Singles ist das liebste Medium der Deutschen ein Begleiter beim Essen.
13.09.2011
Von Martin Weber

Dürfen zwei Verliebte auf dem Wohnzimmersofa zur Sache kommen, während der Fernseher läuft und Jan Hofer die Nachrichten verliest oder Maria Furtwängler im "Tatort"-Krimi einen Fall löst? Sie dürfen natürlich, aber gleichzeitig fernsehen und Liebe machen gehört sich nicht, glaubt der Internetnutzer mit dem wenig originellen Decknamen "anonym". "Hab ich auch schon gemacht und das passt schon", findet dagegen im selben Internetforum jemand namens "kruemel 89", und "nutzer" bringt es auf den Punkt: "Wenn der Sex so langweilig ist, dass man sich nicht genug unterhalten fühlt, gibt es nichts, weswegen man es nicht dürfen sollte." Tatsache ist: Für die TV-Sender ist es ein zunehmendes Problem, dass sich viele Menschen mit ganz anderen, oft schöneren Dingen beschäftigen, während die Glotze läuft – das Fernsehen wird immer mehr zum Nebenbei-Medium.

Das beweisen neue Studien wie die in der Fachzeitschrift "Media Perspektiven" veröffentlichte Untersuchung "Qualitätsprüfung im Fernsehpanel 2010": Während im Jahr 2000 noch 44,8 Prozent der befragten Zuschauer angaben, während des Fernsehens gegessen, Hemden gebügelt, Strümpfe gestopft oder ein Buch gelesen zu haben, waren es 2010 satte 51,6 Prozent. Etwa jeder zweite der rund 900 Befragten, die an einem Werktag abends die Glotze eingeschaltet hatten, konzentrierte sich also nicht nur auf die Nachrichten, seine Lieblingsserie, eine Quizshow oder den Spielfilm, sondern beschäftigte sich parallel dazu noch mit etwas anderem. Mit Abstand auf dem ersten Platz der Nebentätigkeiten liegt dieser Studie zufolge das Essen (16,1 Prozent), gefolgt von Hausarbeit (7,9 Prozent), im Internet surfen (6,5 Prozent), lesen (5,3 Prozent) und sich unterhalten (4,4 Prozent).

Vor allem für viele jüngere Zuschauer ist das Fernsehen neueren Studien zufolge oft nur noch ein vage wahrgenommenes Hintergrundflimmern, während sie im Netz surfen, chatten oder auf ihrem Handy eine SMS nach der anderen schreiben. Hausfrauen lassen die Glotze gerne laufen, während sie bügeln, für Singles ist der Deutschen liebstes Medium ein treuer Begleiter beim einsamen Abendbrot – obwohl Hausärzte vom Essen beim Fernsehen dringend abraten, weil es zum gesundheitsschädlichen Schlingen verführen soll. Besonders gern werden Musiksendungen, Boulevardmagazine, Seifenopern und Talkshows nebenbei konsumiert, Spielfilme oder Dokumentationen fordern dagegen eher die ganze Aufmerksamkeit des Zuschauers.

Trailer buhlen um Aufmerksamkeit, Magazine setzen auf billige Effekthascherei

Die Fernsehmacher und die werbetreibende Industrie haben sich auf das geänderte Nutzungsverhalten längst eingestellt: Lärmige Trailer buhlen um Aufmerksamkeit, Werbespots dröhnen mit erhöhter Lautstärke ins Wohnzimmer, um den TV-Konsumenten im wahrsten Sinne des Wortes wachzurütteln, Wissensmagazine setzen auf billige Effekthascherei und leicht verdauliche Info-Häppchen, um den flüchtigen Zapper oder den durch andere Tätigkeiten abgelenkten Zuschauer bei der Stange zu halten.

Immer mehr Ranking-Shows verflachen alles zur Hitparade, in vielen Krimis und anderen Spielfilmen wird unter allen Umständen vermieden, was die leichte Konsumierbarkeit erschweren könnte – wie gut, dass der ein oder andere Protagonist den Stand der Handlung ab und zu kompakt zusammenfasst, so dass der abgelenkte Zuschauer jederzeit wieder einsteigen kann. "Das Fernsehen ist zu einem Nebenbeimedium geworden. Und das ist nicht nur eine Frage der Rezeption, sondern auch der Produktion", stellt der renommierte Medienexperte Stefan Niggemeier in der Zeitschrift "Medium Magazin" fest. Ein Großteil des Programms ist Niggemeier zufolge "für ein Publikum gemacht, dass ihm nicht seine volle Aufmerksamkeit schenkt: voller Redundanzen, Übertreibungen, Vereinfachungen."

Eine These des berühmten amerikanischen Medientheoretikers Marshall McLuhan ist eben schon lange widerlegt: Der Wissenschaftler hatte 1964 postuliert, das Fernsehen eigne sich - anders als das Radio - niemals als bloßes Hintergrundmedium, weil es den Zuschauer viel mehr fordere. Das wenig fordernde Fernsehen unserer Tage aber scheint sich mit seiner Rolle als Nebenbeimedium abgefunden zu haben.


Martin Weber ist freier Medien-Journalist aus Berlin.