Japan: "Mit der Kraft der Gemeinschaft auf die Beine kommen"

Japan: "Mit der Kraft der Gemeinschaft auf die Beine kommen"
Die Katastrophe von Fukushima hat das japanische Volk an einen Wendepunkt gebracht: Anstatt in Staat und Politik zu vertrauen, krempeln die Menschen nun selbst die Ärmel hoch und versuchen, gemeinsam wieder auf die Beine zu kommen. Das ist die Einschätzung des bekannten japanischen Polit-Kommentatoren Minoru Morita. Auch der Soziologe Turo Hijikata aus Tokio ist der Ansicht, die japanische Gesellschaft habe angefangen, "sich in eine gemeinsame Richtung zu bewegen."

Hijikata und Morita haben beide beobachtet, dass die Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe das Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität in der japanischen Gesellschaft gestärkt hat. "Inzwischen hat sich in ganz Japan eine solidarische Einstellung gebildet mit den Menschen, die durch den Tsunami all ihr Hab und Gut verloren haben", sagte Hijikama. Der durch die Medien verbreitete Appell "Ganbare Nippon!" (Gib nicht nach, Japan!) habe die Menschen mobilisiert. "Es handelt sich dabei um eine für Japaner spezifische Eigenschaft der solidarischen Kooperation."

Toru Hijikata ist Professor für Soziologie in Tokio. Foto: Seigakuin-Universität

Allerdings äußere sich das gemeinsame Bewusstsein der Japaner noch nicht in einer "Art von sinnvoller Kampagne oder gar einer Bürgerbewegung", bedauerte Hijikata. Seiner Ansicht nach könnte eine solche Bewegung bei AKW-Betreibern und Regierung mehr Druck machen und Transparenz einfordern. Die Japaner seien nicht ausreichend über die Folgen er Katastrophe informiert: "Es wird aus meiner Sicht mindestens noch fünf Jahre dauern, bis die Bevölkerung in Japan das wirkliche Ausmaß der Schäden erkennen kann. Die Informationssituation ist alles andere als gut. Reflektieren und konsequentes Nachfragen der Medien ist in Japan nicht üblich." Turo Hijikata äußerste sich Anfang September bei einem Vortrag in der Evangelischen Akademie Loccum über den Umgang der Japaner mit der Katastrophe.

Morita wirft der Regierung Kan Lügen vor

Auch Minoru Morita kritisiert die Informationspolitik der japanischen Regierung nach der Katastrophe. Der gerade von der eigenen Partei gestürzte Regierungschef Naoto Kan und sein Kabinett hätten das Volk von Anbeginn an belogen. "Sie wussten, dass in den Reaktoren bereits die Kernschmelzen einsetzten, es sickerte Radioaktivität aus. Trotzdem haben sie lange öffentlich behauptet, es gäbe keine Probleme." Naoto Kan habe versucht, "durch Manipulation der Informationen das Volk unter Kontrolle zu halten."

Minoru Morita ist ein bekannter Politik-Kommentator in Japan. Foto: minorumorita.blogspot.com

Morita sagte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa, es sei "eine unserer bittersten Erfahrungen" gewesen, zu erfahren, dass das japanische Volk diesmal nicht gesiegt habe. "Daher waren wir alle aus den Wolken gefallen, als es dann hieß, wir hätten verloren." Die Informationspolitik der Regierung sei der Grund dafür, dass Kan das Vertrauen des Volkes verloren habe. "Der zweite Fehler war, dass er sich zu wenig für den Wiederaufbau der Katastrophengebiete eingesetzt hat." Das Vertrauen in den Staat und die Regierung sei "im Großen und Ganzen verloren gegangen."

Die japanische Gesellschaft steht an einem Wendepunkt

Der positive Aspekt der Katastrophenbewältigung sei nun, dass die japanische Gesellschaft sich verändere, meint Morita. "Wir stehen im Moment wirklich an einem Wendepunkt." Die Menschen hätten gemerkt, dass sie sich auf Politiker, den Staat und die Wissenschaft nicht verlassen könnten. Es gebe zwar "einen Haufen an Schwierigkeiten", aber erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wachse in der Bevölkerung "das Bewusstsein …, mit eigener Kraft und der Kraft der Gemeinschaft auf die Beine zu kommen."

Toru Hijikata beschrieb in seinem Vortrag, in welcher Weise die Menschen nach der Katastrophe versuchen, ein umweltbewussteres Alltagsleben zu organisieren: "Die Japaner haben ihren eigenen Lebensstandard reduziert und Sparmaßnahmen ergriffen. In der Öffentlichkeit dominierte das Schlagwort von der 'Selbstkontrolle': Klimaanlagen, sogar Rolltreppen wurden abgeschaltet, vielfach die Beleuchtung auf ein Mindestmaß reduziert. Viele Japaner haben sich bemüht, Produkte aus den vom Tsunami betroffenen Gebieten zu kaufen."

evangelisch.de/dpa