Rache und Vergeltung aus biblischer Sicht

Rache und Vergeltung aus biblischer Sicht
Am Wochenende verzichtete die Iranerin Ameneh Bahrami überraschend auf ihr Recht, gemäß dem Prinzip "Auge umd Auge" ihren Peiniger zu blenden, der ihr durch eine Säure-Attentat das Augenlicht genommen hatte. Grundlage für das Gerichtsurteil war das islamische Recht, das im Iran zur Anwendung kommt. Die Scharia erlaubt einem Geschädigten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Auch in der jüdischen und christlichen Tradition gibt es das Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Dieses so genannte Talionsrecht kennt der Islam, das Judentum und das Christentum. Bei diesem Rechtsgrundsatz steht jedoch nicht die Rache, sondern deren Eindämmung im Vordergrund, erläutert der Bonner Neutestamentler Jochen Flebbe.
01.08.2011
Von Jochen Flebbe

Der Fall der Iranerin Ameneh Bahrami und auch die Tötung Osama bin Ladens haben die Frage nach Rache und Vergeltung aktuell werden lassen. Ameneh Bahrami war das Recht zugesprochen worden, an dem Täter, der sie mit Säure im Gesicht entstellt und erblinden lassen hatte, Rache zu üben und ihn gleichfalls zu blenden. Auch wenn islamisches Recht zur Anwendung kam, wurde der Fall im Westen oft mit den Worten kommentiert, hier gehe es um Rache im Sinne des "alttestamentarischen Vergeltungsdogmas 'Auge um Auge, Zahn um Zahn'". Damit stehen für Christen einige Fragen offen. Ist das Alte Testament ein Buch der Rache? Steht ihm das Neue Testament als Buch der Feindesliebe gegenüber? Wie steht die Bibel zu Gewalt, Rache und Vergeltung?

Spirale der Gewalt stoppen

Zunächst ist es entscheidend zu wissen, dass es bei der Idee "Auge um Auge, Zahn um Zahn" im Alten Testament keinesfalls um Vergeltung geht. Vielmehr ist dies ein Wort gegen die Gewalt. Ganz ursprünglich ging es in einer Welt von Nomaden ohne staatliche Rechtsordnung um die Begrenzung der Blutrache. Die Spirale der Gewalt durch sich immer weiter überbietende Racheakte sollte durchbrochen werden, indem genau begrenzt wurde, in welchem Umfang Rache geübt werden durfte. Im alttestamentlichen Rechtssystem hat das Wort nun gar nichts mehr mit Vergeltung zu tun, sondern es geht um Schadenersatz. Es schreibt nicht das Recht des Opfers auf Rache fest, sondern nimmt den Schaden ernst und regelt seinen Ersatz.

Es geht also nicht um "Auge um Auge" – wie Du mir, so ich Dir –, sondern um "Auge für Auge". Für ein verlorenes Auge muss der Wert eines Auges ersetzt werden – nicht mehr und nicht weniger. Dabei bestimmt die Formulierung nicht nur die Höhe der Ersatzleistung, sondern hält zugleich auch die Schwere des Schadens fest – der nämlich eigentlich nicht wieder gut zu machen ist. Der Wert des Augenlichts kann letztlich nicht mit Geld aufgewogen werden, sondern nur dadurch, dass der Schädiger dem Geschädigten sein Augenlicht ersetzt.

Weil das nicht möglich ist, muss auf die materielle Schadenersatzleistung ausgewichen werden. So wird einerseits das Opfer mit seinem Schaden ernst genommen, andererseits aber ausgedrückt, dass ein solcher Fall nur rechtlich über Ausgleichszahlungen zu regeln ist, soll nicht die Spirale der Gewalt ins Unendliche verlängert werden. Wer also von einem "alttestamentarischen Rachedogma" spricht, trifft in keinem Fall den Geist des Alten Testaments und die gewaltbegrenzende Intention des Wortes "Auge um Auge".

Bergpredigt fordert Feindesliebe

Nur wenn man das erfasst hat, kann man verstehen, wie sich die fünften Antithese der Bergpredigt und Jesu Gebot der Feindesliebe dazu verhalten: "Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage Euch, leistet dem Bösen keinen Widerstand, liebt Eure Feinde!" (Mt 5,38f.44) Wenn schon die Worte des Alten Testaments kein Rachedogma sind, dann können auch die Worte Jesu nicht die Ablösung des Rachedogmas durch die Feindesliebe sein und man kann nicht dem Alten Testament als dem Buch der Gewalt das Neue Testament als Buch der Liebe gegenüberstellen. Vielmehr ist die Ethik Jesu eine radikale Fortführung des alttestamentlichen Anliegens, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen.

Der Evangelist Matthäus, der die Bergpredigt und die Feindesliebe in sein Evangelium hineinkomponiert hat, war selber Jude und er verstand sich und seine Gemeinde der Jesusanhänger als das "bessere Judentum". Das wollten Matthäus und seine Gemeinde vor allem durch einen "ethischen Adel" zum Ausdruck bringen. Dazu gehörte auch, sich den Verzicht auf Ausgleichsleistungen und die Feindesliebe auf die Fahnen zu schreiben – nicht im Gegensatz zum Alten Testament, sondern als Zuspitzung der im Alten Testament vorhandenen Ideen zur Begrenzung der Gewalt und der Feindesliebe.

Vergleichbare Zuspitzungen finden sich übrigens auch im übrigen antiken Judentum. Matthäus und seine Gemeinde wussten dabei, dass sie die Forderung der Bergpredigt zur Feindesliebe nur in der Kraft des Glaubens an ihren Vater im Himmel und ihren Herrn Jesus Christus erfüllen konnten. Dieser hatte selbst dem Bösen nicht widerstanden und in Tod und Auferstehung Leiden und Gewalt überwunden. Die Bergpredigt zeugt somit von der Idee, dass Christen durch ihr Handeln für ihren Glauben – und für eine bessere Welt – werben. Dabei ist diese besondere Ethik nur möglich durch das Vertrauen auf Gott. Sie ist aber nicht vollkommen unpolitisch auf den Kreis der Christen beschränkt, denn als Licht der Welt auf dem Berge gesprochen, ist sie weithin sichtbar und soll zeigen, wie wichtig es für alle Welt ist, die Logik der Gewalt zu durchbrechen.

Kein Mensch soll Vergeltung üben

Das Gebot der Feindesliebe ist nicht immer leicht. Es darf auch nicht dazu führen, Gewalterfahrungen wegzureden, die Opfer in ihren Gefühlen allein zu lassen und mit einem Zwang zu einer billigen Versöhnung zu belegen. Deshalb ist es wichtig, neben der Bergpredigt auch noch einen Blick auf die Psalmen zu werfen. In vielen Psalmen schreien die Opfer furchtbarer Gewalt ihre nur allzu verständlichen Rachegedanken heraus. Sie fordern die Vernichtung ihrer Peiniger. Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt – sind sie weit davon entfernt, selbst ihre Peiniger zu verstümmeln oder zu vernichten. Vielmehr stellen sie das Gott anheim.

Ob und wie er das tut, bleibt ihm in seiner unendlichen Weisheit überlassen. Das ist der biblische Königsweg im Umgang mit Gewalt und Vergeltung. Der Wunsch nach Rache ist für die Bibel nur allzu verständlich, er ist berechtigt bei furchtbaren Verletzungen. Aber der richtige Adressat dieser Wünsche ist nach biblischer Auffassung allein Gott. Nur er hat das Recht, an Leib und Leben zu strafen, Rache zu üben. Auch damit soll die Spirale der Gewalt durchbrochen werden.

Keine Strafen an Leib und Leben

Dennoch müssen selbstverständlich auch menschliche Regelungen im Umgang mir erlittener Gewalt auf dieser Welt getroffen werden. Darauf weist das Wort "Auge für Auge, Zahn für Zahn" ja gerade hin. Als Rechtssatz steht es dafür, wie notwendig es ist, Gewalt zu begrenzen und den Täter zur Rechenschaft zu ziehen, dass dies aber nicht mit eigenmächtiger menschlicher Willkür, sondern nur nach Recht und Gesetz geschehen darf. Die Bindung an das Recht stellt eine weitere wichtige biblische Säule im Umgang mit Gewalt und Vergeltung dar. Willkür lässt die Gewaltspirale sich weiter drehen, durch Recht und Gesetz wird Gewalt begrenzt.

Biblisches Recht stellt dabei einige Grunddaten bereit, die für Christen auch heute noch gelten für die Beurteilung von Gewalt und Vergeltung. Dem Opfer ist Gehör und Recht zu verschaffen. Gewalt ist keine Bagatelle. Rache und Vergeltung allerdings darf kein Mensch, nur Gott üben. Menschliches Richten wird dadurch begrenzt, dass eigentlich nur Gott Richter sein kann. Das letzte Urteil über einen Menschen kann nur Gott fällen. Deshalb sind Strafen an Leib und Leben ausgeschlossen.

Für den Fall der Iranerin heißt das, dass der Schrei des Opfers nach Rache von der Bibel nur allzu gut verstanden wird. Das Recht dazu, diese zu üben, hat Ameneh Bahrami allerdings weder nach alt- noch nach neutestamentlicher Überzeugung. Bei Osama bin Laden bedeutet das, dass es selbstverständlich ist, dass er zur Rechenschaft gezogen wird. Durch eine eigenmächtige willkürliche Maßnahme jenseits von Recht und Gesetz darf dies nach biblischer Überzeugung nicht geschehen. Die Anordnung der Todesstrafe bleibt einem einzigen Richter vorbehalten: Gott. Freuen wird er sich in keinem Fall über den Tod eines Geschöpfes.


Dr. Jochen Flebbe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.