Die Griechenlandkrise und der europäische Balanceakt

Die Griechenlandkrise und der europäische Balanceakt
Griechenland steht vor dem Bankrott und droht die Europäische Union samt ihrer Gemeinschaftswährung mit in den Strudel zu reißen. Die Ansteckungseffekte einer Staatspleite könnten zu einer erneuten Kernschmelze des Weltfinanzsystems führen, fürchtet der Diplom-Volkswirt Andreas Mayert. Der Fachmann vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) analysiert die Ursachen der Krise und schildert verschiedene Alternativen zur Lösung der Probleme. Er rät zu einer vorsichtigen Umschuldung unter Einbeziehung privater Gläubiger. Jede europäische Hilfe für Griechenland müsse grundsätzlich an Bedingungen geknüpft werden.
27.06.2011
Von Andreas Mayert

Hintergrund der aktuellen Diskussion

Im Mai 2010 wurde zur Abwendung einer Staatspleite Griechenlands ein EU-Finanzhilfepaket im Umfang von 110 Milliarden Euro aufgelegt. Planmäßig wurde in diesem Rahmen im Juni 2011 eine Kredittranche von 11 Milliarden Euro fällig. Die Leistung dieser Kredittranche wurde jedoch von einer extrem negativen Wirtschafts- und Haushaltsentwicklung Griechenlands überschattet. So wurde im Mai 2011 bekannt, dass Griechenland in den nächsten beiden Jahren zusätzliche 27 (2012) beziehungsweise 32 (2013) Milliarden Euro fehlen, deren Finanzierung noch unklar ist. Die Ratingagentur Standard and Poor's stufte die griechische Kreditwürdigkeit daher am 9. Mai 2011 um weitere zwei Stufen herab, was eine Refinanzierung des griechischen Staates unabhängig vom europäischen Hilfepaket deutlich erschwerte.

Im Laufe des Juni verschlechterten sich die Einschätzungen der griechischen Zahlungsfähigkeit weiter. Die Euro-Finanzminister gingen am 9. Juni davon aus, dass Griechenland bis 2014 einen Finanzierungsbedarf von 90 bis 120 Milliarden Euro aufweist – pessimistische Schätzungen gehen sogar von 140 Milliarden Euro aus. Zudem äußerte der Internationale Währungsfonds (IWF) offene Bedenken, sich weiterhin an der Finanzierung des Hilfspakets zu beteiligen, da eine Rückzahlung der gewährten Kredite zunehmend unwahrscheinlich sei. Am 14. Juni stufte Standard and Poor's die Bonität Griechenlands um weitere drei Stufen herab. Eine reguläre Refinanzierung Griechenlands am Kapitalmarkt zu tragfähigen Zinsen ist damit praktisch unmöglich geworden.

Sowohl auf Seiten der Euro-Staaten als auch auf Seiten Griechenlands herrscht zur gleichen Zeit starke Unzufriedenheit mit der Entwicklung des bereits bestehenden Hilfspakets. In Griechenland wird die Durchsetzung der damit verbundenen Sparmaßnahmen zunehmend schwierig, vor allem weil sie erhebliche negative Effekte auf die Binnennachfrage des Landes haben. Griechenland befindet sich mittlerweile in einer tiefen Rezession. Die Arbeitslosenquote ist auf über 13 Prozent gestiegen. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2011 sanken die Staatseinnahmen gegenüber dem Vorjahr um sieben Prozent, während die Staatsausgaben zunahmen; das Haushaltsdefizit beträgt 15,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Die Staatsverschuldung hat zwischen 2009 und 2011 um 20 Prozentpunkte zugelegt. Sie beträgt nunmehr das 1,5-fache des Bruttoinlandproduktes. Vor allem aufgrund der ausufernden Staatsverschuldung verlangen die EU-Staaten eine verstärkte Konsolidierung des griechischen Staatshaushalts durch weitere Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen. Da sich letztere wiederum negativ auf die Konjunktur auswirken, werden ergänzende Maßnahmen diskutiert, die neben einer massiven Veräußerung griechischen Staatseigentums und einer Umschuldung zum Teil auch einem Austritt Griechenlands aus der Eurozone und einen damit verbundenen Staatsbankrott ins Auge fassen.

Die Bedeutung der Griechenlandkrise

Griechenland erwirtschaftet lediglich 2,7 Prozent des europäischen Sozialprodukts. Man könnte daher annehmen, dass die Probleme Griechenlands im gesamteuropäischen Maßstab nicht groß ins Gewicht fallen. Aus verschiedenen Gründen ist dem jedoch nicht so:

1. Dominotheorie I: Die Vertrauenskrise in die griechische Schuldentragfähigkeit kann auf andere Staaten übergreifen, die derzeit ebenfalls mit Haushaltskrisen konfrontiert sind - also vor allem Portugal und Irland, mittelfristig aber möglicherweise auch Spanien und Italien. Ähnlich wie die Pleite von Lehman Brothers nachhaltig das Vertrauen in Finanzinstitute erschütterte, könnten Staaten durch eine Staatspleite Griechenlands in einen Abwärtsstrudel gerissen werden. Eine Pleite Griechenlands würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Refinanzierungsbedingungen der genannten Staaten erheblich erschweren und könnte damit weitere Rettungsmaßnahmen erforderlich machen.

2. Dominotheorie II: Auch auf den Finanzmärkten kann es infolge einer Staatspleite Griechenlands erneut zu einer schweren Vertrauenskrise kommen, von der Banken, Kreditausfallversicherer und weitere Akteure betroffen wären. Deutsche Banken sind beispielweise in einem Umfang von 32 Milliarden Euro in Griechenland engagiert; ihr kumulierte Engagement in allem potenziellen Pleitestaaten (neben Griechenland sind das Portugal, Irland, Spanien und Italien) beträgt 520 Milliarden Euro. Damit nicht genug, haben deutsche Banken nicht nur den jeweiligen Staaten, sondern auch dort ansässigen Banken Geld geliehen; sie sind zudem finanziell verbunden mit anderen Banken, die dort engagiert sind. Ansteckungseffekte einer Staatspleite Griechenlands könnten zu einer erneuten Kernschmelze des Weltfinanzsystems führen.

3. Stabilität des Euro und Inflation: Bereits im vergangenen Jahr sind Zweifel daran aufgekommen, ob das Engagement der EZB im Rahmen des Hilfspakets für Griechenland nicht zu einer Schwächung des Euro und – was schwerer wiegt – zu Inflation führen kann. Die Finanzierung von Staatsdefiziten durch Zentralbanken – etwa durch den Ankauf von Staatsanleihen oder die Gewährung günstiger Kredite – ist in der Vergangenheit ein Hauptgrund für die Entstehung von Inflationen gewesen. Bislang ist es der EZB zwar gelungen, durch kompensierende Maßnahmen eine Inflation verhindern. Ob dies aber auch dann möglich sein wird, wenn sich die griechische Haushaltskrise noch längere Zeit fortsetzt und gegebenenfalls auf andere Staaten übergreift, ist fraglich.

4. Schwächung von Grundprinzipien der EU: Eine Situation wie jene, in der sich Griechenland heute befindet, sollte eigentlich durch zwei Artikel des Vertrags von Lissabon nachhaltig verhindert werden. Nach Artikel 125 ("No-Bailout-Klausel") sind Hilfsmaßnahmen der EU für Schuldenstaaten untersagt; nach Artikel 126 soll das sogenannte Defizitverfahren die Entwicklung einer Überschuldung einzelner Staaten bereits im Ansatz verhindern. Nach diesen Regeln hätte ein Fall wie Griechenland niemals eintreten dürfen. Falls er doch eintritt, wäre eine Hilfe grundsätzlich untersagt gewesen.

Mit ihrem Hilfspaket berufen sich die EU-Staaten aber nun auf Artikel 122, der finanziellen Beistand für EU-Staaten dann erlaubt, wenn ein außergewöhnliches Ereignis eintritt, das von Mitgliedsstaaten nicht zu vertreten und nicht zu kontrollieren ist. Im Falle Griechenlands ist ein Rekurs auf diesen Artikel allerdings ausgesprochen zweifelhaft. Zwar ist die momentane Situation der griechischen Staatsfinanzen auch Folge der Finanzmarktkrise, massive Fehlentwicklungen bestanden jedoch bereits seit langer Zeit. Im Ergebnis wurden die Artikel 125 und 126 durch die nicht sachgerechte Bezugnahme auf Artikel 122 ausgehebelt.

5. Schwächung der europäischen Integration: Hinzu kommen Probleme, die mit wirtschaftlichen Fragen zwar verbunden sind, in ihrer Wirkung aber weit darüber hinaus gehen. Würde Griechenland – freiwillig oder unfreiwillig – den Euroraum oder sogar die EU verlassen, würden Stützpfeiler des Jahrhundertprojekts "Europäische Einigung" in Frage gestellt. So geht die Währungsunion auf die sogenannte Grundsteintheorie zurück. Dieser Theorie nach ist die Währungsunion zwingende Voraussetzung für die weitere europäische Integration. Anders gewendet könnte eine Abkehr von dieser Theorie den gesamten europäischen Integrationsprozess ins Wanken bringen, der zurzeit – man denke an die Diskussion um die Europäische Verfassung, an die Kontroversen um eine europäische Wirtschaftsregierung und ganz aktuell an die Unterlaufung des Schengen-Abkommens im Zuge der Flüchtlingsströme aus Nordafrika – ohnehin äußerst fragil ist.

Politikalternativen und ihre Auswirkungen

Drei Alternativen zur Lösung der geschilderten Probleme sollen hier paradigmatisch verglichen werden: (a) Ein vollständiges europäisches Einstehen für die griechischen Staatsschulden unter bestimmten Bedingungen, (b) ein nur begrenztes europäisches Einstehen für die griechischen Staatsschulden und (c) ein Staatsbankrott Griechenlands.

(a) Vollständige Bedienung der griechischen Staatsschulden unter Sparauflagen

Die EU hat sich bislang für die Alternative eines vollständigen Einstehens für die griechischen Staatsschulden entschieden. Sie hat dies mit der Auflage verbunden, dass Griechenland erhebliche Sparmaßnahmen und Wirtschaftsreformen durchführt. Für dieses Vorgehen spricht, dass es eine umweglose Antwort auf das Problem Griechenlands ist, sich kontinuierlich am Kapitalmarkt zu refinanzieren. Aufgrund hoher Risikoaufschläge auf griechische Staatsanleihen ist dies – jedenfalls zu erträglichen Kosten – kaum noch möglich. Auch wurde der griechische Staat durch die infolge des Hilfepakets geringeren Risikoprämien auf emittierte Staatsanleihen zum Teil von Zinsverpflichtungen entlastet – Berechnungen gehen von einer Entlastung im Umfang von zehn Milliarden Euro aus.

Die mit der glaubwürdigen Garantie der fortgesetzten Bedienung griechischer Staatsschulden verbundene Beruhigung der Finanzmärkte verhinderte zudem bislang, dass die beiden oben angesprochenen Dominoeffekte eintraten: Die Finanzierungsbedingungen anderer Krisenstaaten blieben stabil und Banken vertrauten einander weiterhin. Grundsätzlich positiv ist es auch, das Hilfspaket der EU mit Auflagen an den griechischen Staat zu verbinden. Eine bedingungslose Hilfe könnte nicht nur dazu führen, dass die strukturellen Probleme Griechenlands auch in Zukunft ungelöst bleiben, sie birgt auch die Gefahr, ein Moral Hazard Problem zu verursachen: Andere Staaten könnten die Überzeugung gewinnen, in letzter Instanz nicht die Verantwortung für angehäufte Schulden tragen zu müssen – ihre fiskalische Disziplin könnte darunter leiden.

Gegen eine unveränderte Fortsetzung des bisherigen Vorgehens sprechen jedoch gewichtige Argumente. Das Einstehen der europäischen Staaten für die griechischen Staatsschulden führt im Zeitablauf dazu, dass Griechenland seine Altschulden an private Banken mit Neuschulden bei der EU und dem IWF – im Grunde also durch Kreditaufnahme beim Steuerzahler – begleicht. Mit anderen Worten: Private Gläubiger werden vom Risiko einer griechischen Staatspleite sukzessive entlastet, indem europäische Steuerzahler sukzessive mit diesem Risiko belastet werden. So bauten beispielsweise deutsche Banken ihren Besitz an griechischen Staatsanleihen seit April 2010 von 16 auf zehn Milliarden Euro ab, diese Anleihen werden nun von der EZB gehalten. Die Gerechtigkeitsprobleme dieses Vorgehens liegen auf der Hand.

Hochproblematisch ist zudem das mit dem Hilfepaket einhergehende Sparprogramm, dem sich Griechenland unterwerfen musste. Zwar ist es im Prinzip eine Selbstverständlichkeit, dass ein Schuldner nur dann Mittel erhält, wenn er verspricht, mit diesen so sorgsam umzugehen, dass eine künftige Rückzahlung ermöglicht wird. Eine Volkswirtschaft ist jedoch nicht mit einem privaten Schuldner vergleichbar, da innerhalb ihrer Grenzen Ausgaben und Einnahmen untrennbar verbunden sind. Sparmaßnahmen führen daher in der Nettobetrachtung nicht in jedem Fall zu einer Entlastung des Staatshaushaltes. Wenn sie negativ auf die Konjunktur wirken, dann sinken die Steuereinnahmen, während die Sozialausgaben zunehmen.

Dies gilt umso mehr, je abhängiger eine Volkswirtschaft von der Binnennachfrage ist. In Griechenland liegt die Warenexportquote nur bei sechs Prozent (in Deutschland 39 Prozent), der Anteil des privaten Konsums am BIP hingegen bei 70 Prozent (in Deutschland 55 Prozent). Schnürt man durch Sparmaßnahmen die hohe griechische Binnennachfrage ab, ist eine wirtschaftliche Rezession kaum zu vermeiden. Das Problem der Staatsschulden lässt sich so nicht lösen. Zudem lassen sich zwingend notwendige Strukturreformen unter diesen Umständen nicht finanzieren: Weder hat der griechische Staat genügend Mittel, um diese zu finanzieren, noch haben private Akteure Anreize, in eine schrumpfende Volkswirtschaft zu investieren. Es kann sich somit ein Teufelskreis ergeben. Die jüngste Entwicklung der griechischen Wirtschaft deutet darauf hin, dass auch genau dies der Fall ist.

(b) Teilweiser Forderungsverzicht durch Umschuldung Griechenlands

In jüngerer Zeit werden verstärkt Vorschläge einer Abkehr von der bisherigen Strategie laut. In einer gemäßigten Variante wird ein grundsätzliches Festhalten an europäischen Garantien für griechische Staatsschulden gefordert; dieses soll aber mit einer Umschuldung Griechenlands verbunden werden. Mit anderen Worten: Griechenland soll durch einen teilweisen Forderungsverzicht öffentlicher und privater Gläubiger vom Druck der kontinuierlich notwendigen Refinanzierung am Kapitalmarkt entlastet werden. Im Gespräch ist dabei vor allem eine "sanfte Umschuldung", das heißt der Forderungsverzicht soll nicht endgültig sein, vielmehr wird angedacht, die Laufzeit griechischer Staatsanleihen zu verlängern.

Dem griechischen Staat würde so jene Luft zum Atmen gewährt, die für eine Konsolidierung des Haushalts notwendig ist. Allerdings würden zugleich die Kreditgeber Griechenlands belastet, was zum einen die Bonität griechischer Anleihen weiter verringern, zum anderen aber auch die Bonität der Forderungsbesitzer gefährden kann. Im Gespräch ist daher bislang nur ein Verzicht auf öffentliche Forderungen; in diesem Fall müssten die europäischen Steuerzahler den Forderungsverzicht finanzieren. Auch eine Umschuldung würde daher Gerechtigkeitsprobleme erzeugen. Befürchtungen eines Eintretens der oben geschilderten Dominoeffekte verhindern bislang, dass ein eigentlich angezeigter Forderungsverzicht auch der privaten Gläubiger politisch durchsetzbar ist. Deutschland, die Niederlande und Finnland treten für eine private Gläubigerbeteiligung ein, die meisten Euro-Staaten sowie die EZB sprechen sich jedoch dagegen aus.

(c) Vollständiger Forderungsausfall durch einen Staatsbankrott Griechenlands

Weit über eine Umschuldung hinaus gehen Vorschläge, die Griechenland einen freiwilligen Ausstieg aus der Eurozone nahelegen oder sogar einen zwangsweisen Ausschluss fordern. Für dieses Vorgehen sprechen vor allem Argumente, die sich aus der Außenhandelstheorie ableiten. Griechenland würde durch die Wiedereinführung einer eigenständigen Währung in die Lage versetzt, durch Abwertung heimische Güter und Dien tleistungen zu verbilligen und damit konkurrenzfähiger zu machen. Exporte und die für Griechenland wichtige Tourismusindustrie würden dadurch gestärkt, ohne dass die Binnennachfrage durch Sparprogramme begrenzt würde. Zudem könnte Griechenland die Leitzinsen unabhängig von der EZB bestimmen. Konjunkturfeindliche Zinserhöhungen, wie sie zurzeit im Euroraum aufgrund der Preissteigerungsrate notwendig werden, könnten in Griechenland unterbleiben – auch damit würde sich die wirtschaftliche Situation verbessern.

Gegen die in Inkaufnahme eines Staatsbankrotts Griechenlands sprechen jedoch ganz erhebliche Argumente. In Griechenland würde es im Vorfeld einer Währungsumstellung vom Euro zur Drachme aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Bankrun kommen. Das heißt: Anleger würden versuchen, ihre "harten" Euro-Guthaben vor der Währungsumstellung zu liquidieren. Griechische Banken wären diesem Druck in keiner Weise gewachsen und würden innerhalb kürzester Zeit zahlungsunfähig werden. Wenn man die griechische Wirtschaft nicht vollends abwürgen will, müssten die griechischen Banken dann gerettet werden – was entweder erneut die griechischen Staatsschulden erhöhen oder ein Eingreifen der EU erforderlich machen würde. Es wäre somit wenig gewonnen.

Auslandsschulden wären zudem nicht von der Währungsumstellung betroffen und müssten weiterhin in Euro oder Dollar beglichen werden, was mit einer abgewerteten heimischen Währung noch schwieriger würde. Vielleicht sogar noch erheblicher ist, dass die Auswirkungen eines Staatsbankrotts Griechenlands auf das Vertrauen der Kapitalmärkte überhaupt nicht abzusehen ist. Die Refinanzierung Griechenlands und griechischer Unternehmen wäre vermutlich für längere Zeit unmöglich. Die Folgen für die griechische Wirtschaft wären verheerend. Zudem würde auch das Vertrauen in die Solvenz anderer europäischer Krisenstaaten sinken – die oben geschilderten Dominoeffekte ließen sich kaum verhindern.

Fazit

Es ergibt sich eine Dilemmasituation. Das bisherige Vorgehen einer vollständigen Garantie der EU und des IWF für griechische Staatsschulden hat, weil es mit konjunkturfeindlichen Sparauflagen verbunden wurde, die Situation Griechenlands nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Ein Austritt oder Ausschluss Griechenlands aus dem Euroraum wäre aber aller Voraussicht nach mit noch viel katastrophaleren Folgen verbunden, die nicht nur Griechenland, sondern auch viele andere europäische Staaten treffen würden. Im schlimmsten Fall könnte es darüber hinaus zu einer erneuten Kernschmelze des Finanzmarktes kommen.

Gibt es eine Lösung dieser verfahrenen Situation? Ein Königsweg existiert wohl nicht. Empfohlen werden kann aber, zeitnah eine auf bisherige Erfahrungen gestützte Weiterentwicklung des Hilfspakets für Griechenland einzuleiten und dabei zwischen akut notwendigen Maßnahmen und eher langfristig wirksamen Strukturveränderungen zu unterscheiden. So gerecht drakonische Sparauflagen auf den ersten Blick erscheinen: In der momentanen wirtschaftlichen Lage Griechenlands führen tiefgreifende Sparmaßnahmen lediglich dazu, dass die Mittel der Hilfepakete nicht einer wirtschaftlichen Gesundung Griechenlands, sondern allein der Bedienung von Gläubigeransprüchen dienen.

Die negativen Effekte der Sparmaßnahmen auf die griechische Wirtschaft könnten allerdings begrenzt werden, indem eine vorsichtige Umschuldung eingeleitet wird, die – wenn sie umfänglich begrenzt ist - auch private Gläubiger einschließen sollte. Denn nur eine Haftung auch der Banken kann mittelfristig dazu führen, dass eine leichtfertige Kreditvergabe an Staaten zukünftig begrenzt wird. Begleitet werden muss diese temporäre "Erleichterung" Griechenlands von einer Investitionsförderung aus EU-Mitteln, mit deren Hilfe die wirtschaftliche Depression überwunden und ein Strukturwandel eingeleitet wird. Griechenland wird auch unter diesen Umständen harte Anpassungen in Kauf nehmen müssen. EU und IWF als Gläubiger werden noch auf Jahrzehnte hinaus das Druckpotential besitzen, Strukturveränderungen zu erzwingen. Sie allerdings in der Mitte einer tiefen Rezession durchdrücken zu wollen, nutzt weder Griechenland noch den europäischen Steuerzahlern.

Die Hilfepakete für Griechenland werden häufig unter dem Gesichtspunkt der europäischen Solidarität diskutiert. Es ist ein Allgemeinplatz, dass Solidarsysteme keine Einbahnstraßen sind. Hilfen für Griechenland sollten daher niemals unbedingt gewährt werden. Auch im Solidarsystem der deutschen Sozialversicherung werden selbstverschuldete Notlagen anders behandelt als das zufällige Eintreten von Risiken; sie werden insbesondere mit Sanktionen belegt. Sie führen jedoch niemals dazu, dass Hilfen vollständig verweigert werden, denn dies wäre weder ethisch zu rechtfertigen noch vernünftig.

Griechenland benötigt jetzt an erster Stelle eine Art von Hilfe, die das Land in die Lage versetzt, eine zu einem nicht unerheblichen Teil selbstverschuldete Notlage zu überwinden und wieder auf die Beine zu kommen. Die griechische Volkswirtschaft wird dann hohe Anpassungslasten tragen müssen, um aufgenommene Kredite zurückzuzahlen – auch dies ist ein Gebot des Solidarprinzips. Aber diese erzwungene Anpassung – anders ausgedrückt: die Sanktion – kann erst dann erfolgen, wenn akute Hilfe nicht mehr notwendig ist.


Dr. Andreas Mayert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover. Er befasst sich hauptsächlich mit sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen sowie mit dem Verhältnis von Ökonomie und sozialer Kontrolle. Mayert studierte Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaft in Essen, Bamberg und Bochum. Er war Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpolitik und Sozialökonomie der Ruhr-Universität Bochum.